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Per Anhalter durch die Bretagne

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Per Anhalter durch die Bretagne | story.one

Das Auto sah aus, als ob es von einer Abrissbirne getätschelt worden wäre. Der Fahrer legte eine Vollbremsung hin und öffnete die Beifahrertür. „Perros?“, fragte er. „Oui“, sagte ich und stieg ein. Der Beifahrersitz war erträglich unsauber und für meine Beine schuf ich Platz, indem ich Arbeitshandschuhe und Coladosen mit dem linken Fuß beiseiteschob. „Ça va?“, fragte er und grinste. Im tiefen Ausschnitt seines Blütenhemds schwang ein grobes, silbernes Kreuz. Als ich den Gurt suchte, machte er eine bemüh-dich-nicht-Geste. „Der klemmt.“ Dann begann er zu erzählen. Dass er Fernfahrer sei, aber im Moment im Krankenstand. Ein Unfall, nichts Schlimmes, komme öfter vor. Er lachte und beugte sich über mich.

Oh nein, dachte ich, nicht das. Nicht in dieser Artischockeneinöde. Nicht bei 90 Stundenkilometern. Nicht hier, nicht jetzt und überhaupt nie und nirgends. Bis jetzt war doch alles gutgegangen, lauter freundliche Bretonen, die eine verwaiste Tramperin vor den bösen Franzosen retten mussten, die es in dieser Gegend ab und zu geben soll. Ich versteifte mich, überschlug hektisch meine Möglichkeiten. Schreien, schlagen, Handbremse ziehen, Tür aufreißen, rennen, weg, rennen. Sein Kreuz pendelte über meinem Oberschenkel, der Stoff seines Blumenärmels streifte mein Dekolletee. Ich drückte mich in den Sitz und zog alles ein, was vorne einzuziehen möglich war.

Er streckte seinen Arm und griff ins Handschuhfach. Die langen Haare seines Vokuhila kitzelten meine Oberlippe. Er stierlte eine Weile im Fach herum, bis er gefunden hatte, was er suchte. Ein Foto. Befriedigt lehnte er sich zurück und reichte es mir. Ein vollkommen zermatschtes Führerhaus. „Mein tollster Unfall“, sagte er und lachte fröhlich. Nur einen Knöchel habe er sich gebrochen und ein paar blaue Flecken gehabt. Er legte seine Linke auf das Kreuz an seinem Herzen. „Ich bin ein Glückskind!“, rief er und schaute mich mit blauen Strahleaugen an.

Ich fragte nicht nach Schuld und Details, mich interessierte nur mehr die Entfernung bis Perros-Guirec. Ich trug zwar kein silbernes Kreuz auf meiner Brust, aber ein Glückskind war ich auch: nur mehr zehn Kilometer. Und ich war noch ganz. So ganz, wie es in einem Renault Alpine mit Heckspoiler nur möglich ist.

Nach dem Ortsschild bremste mein Chauffeur auf 50 herunter und meinte, seine Mutter hätte einen hervorragenden Cidre zuhause. Das müsse sein. Das ginge gar nicht anders. Einen Cidre darf man nicht ausschlagen. Affront gegen die bretonische Gastlichkeit. Ohne sich um meine Antwort zu scheren, bog er ab und rumpelte über eine Wiesenpiste auf ein geducktes Haus zu.

Seine Mutter umarmte mich wie eine verlorene Tochter und trug Artischocken mit Zitronenbutter auf. Nach einem großen Becher Cidre fuhr mich ihr Sohn zum Zeltplatz. Im Rhythmus der Schläge, mit denen er die Heringe für mein Zelt in den Boden hämmerte, tanzte sein silbernes Kreuz vor einer blondrot behaarten Brust.

© Christine Mayr 2022-06-22

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