Rapunzel im Elfenbeinturm
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Hinter dem grünen Hügel, zu dessen Füßen das Städtchen Schilda lag, stand ein Turm, über und über in Elfenbein gekleidet. Dort wohnte Rapunzel, das für sein mahagoniglänzendes Haar von allen Schildbürgerinnen bewundert und von fast allen beneidet wurde. Gekommen war das so:
Das schildbürgerliche Jungvolk traf sich an linden Sommerabenden auf dem Platz vor dem Rathaus, um Balz zu tanzen. Nachdem es von der Schulmeisterin für reif erklärt worden war, durfte auch Rapunzel diesen Zusammenkünften beiwohnen. Doch noch ehe der Sommer vergangen war, hatte es sich an den begehrlichen Blicken der Balzenden satt gesehen und war der Anträge überdrüssig geworden, die es allabendlich abweisen musste. Es liebte sein Haar und wollte es mit niemandem teilen.
Rapunzel stattete die Kammer unter dem Zwiebeldach des Turms mit Spiegeln aus und wähnte sich derart in bester Gesellschaft. Jeden Morgen kämmte es sein Haar, das glatt und seiden über seinen Rücken fiel und flocht es zu einem dicken Zopf. Je länger das Haar wurde, desto länger wurden die Morgen, in denen Rapunzel es bürstete. Die Morgen streckten sich in die Nachmittage und diese wiederum in die Abende. Rapunzel kämmte und flocht und bewunderte die Pracht seines Haars von allen Seiten in den Spiegeln auf allen Seiten der Kammer. Es hörte nicht, dass eines Tages Ritter Blauschimmel nach ihm rief. „Rapunzel, Rapunzel, lass mir dein Haar herunter!“ Es hörte auch nicht, dass der Ritter abends wiederkehrte und ein Lied sang. „Rapunzel, Rapunzel, deine Schönheit hat mein Herz entflammt. Gewähre mir einen Augenblick deiner Gegenwart!“
Jeden Morgen kam Blauschimmel geritten, um nach Rapunzel zu rufen, jeden Abend stimmte er sein Lied an. Seine Sehnsucht nach dem sagenhaft schönen Wesen wurde jedoch nicht gestillt. Rapunzel war so davon angetan, sein Haar zu pflegen und sich in den Spiegeln zu spiegeln, dass es weder Ohren für den Minnesang des Ritters noch Augen für dessen schöne Gestalt hatte.
Es kämmte und bürstete, der Kavalier rief und sang. Das Haar verlor allmählich seinen Mahagoniglanz, der Zopf wurde zum dünnen Zöpfchen und die Spiegel bekamen blinde Flecken. Rapunzel fand, dass es nun an der Zeit war, den Turm zu verlassen. Es musste keine Begehrlichkeiten mehr fürchten. Es warf seinen dünnen Zopf vom Fenster hinunter und kletterte daran den Turm hinab. Unten, zwischen Brennnesseln und Disteln lag der Ritter und hielt seinen blauen Schimmel in den Armen. Rapunzel war tief bewegt ob der Schönheit der beiden Gestalten, die noch im Tod das Hohelied der Liebe zu singen schienen. Es bettete seinen Kopf auf die Brust des Ritters und schloss die Augen. In einem Baum sang die Nachtigall und Rapunzel lauschte, bis es auf ewig in bester Gesellschaft war. In der des Kavaliers und seines blauen Schimmels.
© Christine Mayr 2022-09-27
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