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Rechenkünstlerin

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Rechenkünstlerin | story.one

Die Sonne lockt. Eine späte Wärme verwöhnt die Stadt. Im Café stehen Stühle draußen und haben Wolldecken an. Es riecht nach Kaffee und frischen Croissants. Ermelinde bleibt stehen. Sie rechnet. Sie kann gut rechnen. Sie weiß, dass sie für zwei Espressi drei Euro bezahlte. Damals, als einer eins fünfzig kostete. Jetzt kostet einer drei Euro. Wenn sie das Trinkgeld mitrechnet.

Die Kellnerin lächelt Ermelinde an. Cappuccino serviert sie, und Latte. „Hallo“, sagt sie. „Ein Espresso? Wie immer?“

Ermelinde hat nachgerechnet. Dreihundert dividiert durch dreißig. Macht zehn. Zehn Euro für einen Tag. So viel darf sie ein Tag kosten. Höchstens. Keinen Cent mehr. Und manche Monate haben einunddreißig Tage. Das darf man beim Rechnen nicht vergessen.

Zehn Euro. Sie kann nicht nur addieren, sondern auch dividieren. Und subtrahieren. Wenn sie einen Espresso von zehn abzieht, bleiben sieben. Sieben Euro für Pasta, Klopapier und Salz. Und was man sonst noch so braucht. Zwiebeln, Zahnpasta, Hustensaft. Mittagessen bei der Wirtin hat sie sich schon lange keines mehr gegönnt. Die Butter streicht sie dünner aufs Brot.

Dieser Monat hat einunddreißig Tage. In ihrem Portemonnaie hat sie noch einen roten Schein und ein paar Cents. Ich habe schon eingekauft, denkt Ermelinde. Ich habe alles zuhause, was ich für morgen brauche. Trotzdem.

„Nein“, sagt sie zur Kellnerin und lächelt nicht. „Ein anderes Mal.“

Sie geht durch die Wärme der Stadt. Sieht das Rot der Parkbänke. Der Brunnen plätschert. Noch hat er sein Winterkleid nicht an. Setz dich zu mir, flüstert er. An meinem Rand musst du nicht rechnen.

Ermelinde packt ihre Tasche fester, drückt sie vor die Brust. Ein Schutzschild gegen die Angst. Gegen die Angst, dass das Rechnen noch schwieriger werden könnte. In den kommenden Wochen, womöglich Monaten. Wenn nicht nur die Espressi, sondern auch die Semmeln und die Kartoffeln.

Warm streicht ein sanfter Wind über Ermelindes Wangen. Im Café würde sie jetzt den Hut abnehmen und die Füße ausstrecken. Die Kellnerin würde den Caffetino bringen. Ermelinde würde den köstlichen Schaum mit dem kleinen Löffel abschöpfen und sich danach die Lippen lecken.

Zuhause sucht sie die Thermoskanne. Die sie früher, damals, mit Tee gefüllt hat, wenn sie mit Hubert auf einen Berg. „Magst mit mir einen Kaffee trinken gehen?“, tippt sie. „Um drei beim Brunnen im Park.“ „??“, schreibt Hubert zurück. „Kaffee, Brunnen, Park?“ „Komm einfach“, schreibt Ermelinde und schraubt die Kanne zu.

Sie treffen sich vor dem Brunnen, dem plätschernden. „Wohin gehen wir?“, fragt Hubert. „Wir sind schon da“, sagt Ermelinde und setzt sich auf die rote Bank am Brunnenrand. Sie streckt die Füße aus und behält den Hut auf. Sie reicht Hubert ein Tässchen. „Zucker habe ich dir auch mitgebracht.“ Sie schenkt ein. „Ich habe nachgerechnet“, sagt sie. „Dieser Kaffee kostet mich drei Cent. Da kann ich dich sogar einladen.“

Foto: micheile dot com on Unsplash

© Christine Mayr 2022-10-02

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