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Reiche Tussi

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Reiche Tussi | story.one

Der Bettler streckt eine Hand aus. „Bitte“, sagt er, „bitte. Ein paar Euro für einen armen Mann.“ Ermelinde bleibt stehen. „Nein“, sagt sie. „Ich habe selber kein Geld.“

„Du?!“ Der unrasierte Mann spuckt sie wütend an. „Du? Du! Du mit deiner Gucci-Tasche? So eine doofe Ausrede habe ich noch nie gehört. Steck dir deinen Reichtum doch in den Arsch, du blöde Tussi.“ Er fällt in sich zusammen. „Ich weiß, wie es sich anfühlt“, sagt Ermelinde sanft. „Die Tasche habe ich geschenkt bekommen. Von einer wirklich reichen Tussi.“ Der Mann schaut wieder hoch. „Und deine pipifeine Frisur? Hat dir die auch jemand geschenkt? Der liebe Gott zum Beispiel?“ „Mach’s gut“, sagt Ermelinde. „Ich wünsche dir Glück.“ „Scheiß auf dein Glück“, sagt der Mann.

Zuhause hängt Ermelinde ihre Tasche an den Haken, der ihr als Garderobe dient. Den Lippenstift stellt sie auf das Bord, das Anrichte und Schminktisch in einem ist. Ihre Wohnung ist warm. Noch. Die Sonne scheint. Wenn sie untergegangen ist, wird es kühler werden. Ermelinde wird ihren roten Pullover anziehen, der mit den Jahren lang und weit geworden ist. So lang, dass er auch ihre Schenkel wärmt. Feiner Merino. Übrig geblieben aus einer Zeit der Unbekümmertheit. In der sie zur Wintersonnenwende alle Räume ihrer Villa heizte und eine Party gab. „Dresscode ärmellos“ schrieb sie auf die Einladung und servierte Sommerspritzer.

Ermelinde zieht sich Legwarmers über die Knöchel und schlüpft in ihre Hauspatschen. Dann setzt sie sich an ihr wackeliges Tischchen und füllt Erlagscheine aus. Gas, Strom, Miete. Vor einem Jahr hat das Gas ein Viertel, der Strom die Hälfte gekostet. Die Sonne verzieht sich, es wird kühl in der kleinen Garçonniere. Ermelinde dreht den Heizkörper nicht auf. Die Nachbarn heizen. Das muss reichen. Sie setzt ein Stirnband auf und zieht die fingerlosen Handschuhe an. Später dann, wenn Commissario Brunetti in Venedig ermittelt, wird sie eine Wärmflasche füllen und sich damit unter die Decke legen. Vorher schreibt sie ihrer Nachbarin im zwölften Stock. „Brauche wieder einmal einen Schnitt. Wann haben Sie Zeit?“ Die Nachbarin ist Meisterin gewesen, mit eigenem Salon. „Morgen“, schreibt die zurück. „Morgen um elf.“

Ermelinde zieht ihren kurzen Rock an, schlüpft in die blickdichte Strumpfhose und trägt den Lippenstift auf, der glücklicherweise zu ihrem roten Pullover passt. Dann steigt sie die sieben Stockwerke zur privaten Frisierstube hinauf. Dort ist es warm. „Sie können sich ruhig Zeit lassen“, sagt Ermelinde, „auf mich wartet nichts.“ „Zu Neujahr fahren wir wieder nach Venedig“, sagt die Frau mit der Haarschere. „Für eine Woche. Können Sie?“ „Klar“, sagt Ermelinde. Sie nimmt immer den hässlichen Hund, wenn die Frisiermeisterin verreist. Eine Hand wäscht die andere.

Der Bettler sitzt wieder auf seiner Zeitung. „Bitte“, sagt er, „bitte. Ein paar Euro für einen armen Mann. Und viel Glück, schöne Frau.“

Foto: freestocks on Unsplash

© Christine Mayr 2022-12-13

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