Reise nach Pisa
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Nach dem großen Krieg herrschte in Schilda große Not. Dass die klügeren der Närrinnen ihrer Heimat adieu gesagt hatten, machte die Not noch größer. Der alte Schulmeister ließ sich davon jedoch nicht beirren. „Wer soll die jungen Kindsköpfe unterrichten, wenn kein Schulmeister da ist?“, fragte er sich und blieb.
Im Keller des Ochsenwirtn lag ungenutzt der Trichter, mit dem die Ochsenwirtin in der guten alten Zeit die Perlen in den Schaumwein gefüllt hatte. Da in der ganzen Schenke niemand anzutreffen war, nahm der Schulmeister den Trichter ohne zu fragen mit in das Schulhaus und begann, den Kindsköpfen sein ganzes Wissen einzutrichtern. Vielleicht würde es ausreichen, um die Klügeren unter ihnen vor der Schmach zu bewahren, bei der Prüfung durch den kaiserlichen Oberschulmeister durchzufallen.
In seinem Eifer, die Köpfe der Kindsköpfe mit nützem und unnützem Wissen zu füllen, übersah er eines Tages, dass er den Trichter zu voll gemacht hatte. Wenig später hörte er aus der Latrine lautes Wehklagen und eilte hin, um zu sehen, was geschehen war. Jesus, der Sohn der Pastorin, krümmte sich zwischen den Holzbalken und winselte: „Ich habe Durchfall!“. Dabei zeigte er hinter sich auf den Boden des Aborts und was der Schulmeister dort sah, kam einer Offenbarung gleich. Dort lagen alle Buchstaben des Schilda’schen Alphabets. „Herrje!“, rief der Schulmeister und tätschelte den Kopf des kleinen Jesus. „Was bist du doch für ein Klugscheißer! Mit dir werden wir Schilda wieder groß machen.“
Bald darauf taten die beiden eine Reise. Der Schulmeister kratzte den Goldstaub aus dem Fass, in dem die Schildbürgerinnen ihre Goldbarren gelagert hatten, bevor sie sie für Perlen und Schaum versetzten und sattelte die letzte Eselin, die Schilda noch verblieben war. Das Ziel der beiden war Pisa, denn das Latrinengerücht wusste von einem famosen Nudelwalker, der am Fuße des schiefen Turms beheimatet sei. Diesen aufzusuchen war des Schulmeisters Ansinnen.
Die Entfernung zwischen Schilda und Pisa war groß, doch die beiden Reisenden waren auf ihrer wackeren Eselin schneller am Ziel als der Herold mit der Nachricht vom verblassten Ruhm Schildas. Der Nudelwalker war hoch erfreut, Besuch aus dem Städtchen zu bekommen, dem Pisa nacheiferte. „Was ist Euer Begehren, allerwerteste Bürger von Schilda?“, fragte er und kredenzte Wein. Diesem fehlten zwar die Perlen, doch der Schulmeister sprach ihm trotzdem zu, denn er wollte seinen Gastgeber nicht verprellen. „Wir möchten, dass Er Seine Nudeln zu Buchstaben walkt und nach Schilda liefert.“ Der Nudelwalker gab sich mit der Prise Goldstaub zufrieden, die ihm der Schulmeister anbot und das Geschäft ward besiegelt.
Als die Ware des Nudelwalkers in Schilda eintraf, bereitete der Wirt aus dem Schwanz seines letzten Ochsen eine Brühe und stellte eine Tafel vor das Wirtshaus. „Neu! Buchstabensuppe!“, stand darauf zu lesen und es war das Ende der sieben mageren Jahre in Schilda.
© Christine Mayr 2022-07-19
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