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Sie will es genau wissen

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Sie will es genau wissen | story.one

Kaum bestellt, ist ihre Suppe schon da. Dampfend und mit viel Schnittlauch auf dem Knödel. Die Gespräche an den Nachbartischen drehen sich um Höhenmeter und Gipfelsiege. Julia zerteilt den Knödel und pustet. Eine Gruppe Männer steigt die Stufen zur Terrasse herauf und verteilt sich an den freien Tischen. Die beiden letzten bleiben ratlos vor Julia stehen und schauen.

„Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?“

„Aber bitte, gern doch.“ Neben ihr auf der Holzbank ist noch genügend Platz.

Sie führt den ersten Löffel an die Lippen und prüft die Temperatur.

„Mahlzeit“, sagt ihr neuer Nachbar, „sieht lecker aus“.

„Danke“, sagt sie und überlegt, was für eine Gruppe das sein könnte. Ein Klassentreffen? Ein Betriebsausflug? Aus dem hohen deutschen Norden jedenfalls, das ist unüberhörbar.

„Woher seid’s ihr?“, fragt sie.

„Aus Deutschland.“

Deutschland ist groß, denkt sie.

„Und wo da?“

Sie möchte es genauer wissen, sie will den Zungenschlag einordnen können. Sie tippt auf Hamburg.

Die Antwort dauert. Da kann sie in der Zwischenzeit zu essen anfangen. Was ist an dieser Frage schwierig?, fragt sich Julia. Ist der Heimatort etwas, das man geheimhalten muss? Sie will ja keine Adresse haben. Nur eine ungefähre geografische Angabe.

„Ich komme aus Hannover“, sagt der Mann, nachdem er eine Apfelschorle bestellt hat.

„Und die anderen?“ Die Frage stellt sich von selbst.

Wieder Schweigen.

Ja mei, soll er’s halt lassen, denkt Julia. Wenn das so schwierig ist. Wenigstens weiß ich, dass ich mit Hamburg nicht allzu falsch gelegen bin.

„Ich bin aus Bremen“, bricht der andere Mann das Schweigen.

„Aha.“ Sie pustet auf den Löffel.

„Die meisten von uns kommen aus Norddeutschland“, nimmt ihr Nachbar den abgerissenen Gesprächsfaden wieder auf. „Ein paar Niederländer sind auch dabei.“

Das klingt nicht nach Klassentreffen, denkt sie. Vielleicht eine Selbsthilfegruppe? Oder das Trockentraining eines Segelclubs?

„Und was macht ihr in Tirol?“

Blöde Frage. Saublöde Frage. Was macht man schon in Tirol, inmitten der Berge? „Ich meine … wie gehört ihr zusammen? Seid ihr Manager auf einem Teambuildingkurs …?“ Oder vom Verein der Hasenzüchter, Krippenbauer, Schachspieler?

Die beiden Männer an ihrem Tisch wechseln einen fragenden Blick. Julia löffelt ihre Suppe. Eine Kuh hebt ihren Schwanz und pritschelt in die Wiese. Der Kellner bringt Apfelschorle und Weizenbier. Der Mann neben Julia räuspert sich. „Wir sind eine Gruppe schwuler Männer“, sagt er.

Und auf einmal sieht sie es. Zwei, die knutschen, eine Hand an einer Wange, ineinander geschlungene Finger. Und ihr Nachbar erzählt. Von einer Internetplattform für gemeinsamen Männerurlaub, von Segeltörns und Bergtouren. Er lässt den Gesprächsfaden nicht mehr abreißen, bis die Suppe fertig gelöffelt ist und Julia aufbricht. „Einen schönen Urlaub noch“, sagt sie. „Und danke für das Gespräch“.

Foto: Matheus Ferrero on Unsplash

© Christine Mayr 2021-07-08

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