So höflich
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Mein Kater hält nichts von Ausgangssperre, Kontaktvermeidung und Abstandhalten. Er schnurrt vertrauensselig um meine Knöchel, legt sich in der Siestatime genüsslich auf mein Zwerchfell und streckt mir eine Pfote auf die Wange. Ich mag das, aber die Mäuse in unserem Hinterhof leiden unter seiner Distanzlosigkeit. Jeden Tag liegt eine tot auf meinem Küchenboden. Und wer weiß, wie viele er nächtens, im Garten … Ich will von Dunkelziffern nichts hören. Auf meinen nüchternen Magen sehe ich einen blutigen Mauspopsch oder ein kleines, starres Körperchen, von dem nur Kopf und Rücken übrig sind. „Nemorino“, sage ich, „verrichte dein blutiges Geschäft doch bitte im Garten!“ Ich habe es aufgegeben, ihm Standpauken zu halten, ihm die Vorzüge seiner Futterschüssel anzupreisen, ihm seine künftigen Leben ob der miesen Karmapunkte schwarzzumalen. „Ich bin eben ein Kater“, sagt er dann und streicht seidenweich um meine Füße.
Lebend sind mir Mäuse eindeutig lieber. Mittlerweile. Anfangs habe ich mich geschreckt, wenn eine unter die Küchenbank gehuscht ist, und ich habe nach Mitteln und Wegen gesucht, sie zu fangen und den spitzen Zähnen des Stubenraubtiers zu entreißen. Jetzt verlasse ich mich auf das Glück. Auf meines und damit das der Maus.
Heute hatten wir es wieder, dieses Glück. Mein Kater saß vor dem Rattanturm, auf dem der Weihnachtskaktus steht, in dieser verdächtig angespannten Haltung, die immer eines heißt: Maus im Haus. Während wir beide schauten, er konzentriert, ich neugierig, kletterte das Objekt seiner Begierde die Rattanwand hinauf. Süß und unbekümmert. Mein Kater schaute, nichts von Jagdtrieb. Kein Mucks. Das verstehe ich dann immer nie – warum er manchmal so ungerührt sitzen bleibt und andere Male mit einem Hieb seiner Pranke das Tier erledigt. Aber es war natürlich meine Chance. Und die der Maus. Sie ließ sich in den Altpapiersammelsack fallen und bat mich, ihn hinunterzutragen. So verstand ich sie jedenfalls.
Als ich den Sack im Garten abstellte, um den Papiercontainer zu öffnen, kletterte die Maus auf den Rand hinauf und orientierte sich. Ich gab ihrem Po einen Schubs, sie fiel ins Gras und schaute sich zu mir um. Natürlich verstand ich das als Dankeschön, denn sie hätte sich ja auch verzögerungslos hinter den nächsten Busch verzupfen können.
Ob es dieselbe Maus gewesen ist, die sich vor ein paar Wochen im Katzengrastopf retten ließ und sich manierlich bedankte? Oder gibt es eine Mausfamilie im Garten, die schlauer ist als die anderen – und höflicher?
© Christine Mayr 2022-02-16
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