Sonntags.Ruhe
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Angenommen. Angenommen, ich wüsste nichts vom elften Gebot. Das da lautet: Am Sonntag, namentlich an einem sonnigen, sollst du das Haus verlassen und Bewegung in der frischen Luft machen. Angenommen, ich wäre nicht in Tirol aufgewachsen und würde nur die überregional anerkannten zehn Gebote kennen. Angenommen, ich glaubte daran, dass man an diesem Tag zu ruhen hätte. Wie Gott es getan hat, am siebten Tag. Nachdem er sechs Tage lang geschuftet hat, um Himmel und Erde – und wohl auch die Hölle – zu erschaffen.
Dann. Dann könnte ich sagen, ich folge nur Gottes Vorbild, wenn ich zuhause bleibe und meinem Kater nacheifere. Der nichts tut. Außer gute Stimmung zu verbreiten. Gut, in dieser Hinsicht habe ich noch Optimierungsbedarf. Aber beim Nichtstun bin ich schon gut dabei. Ich dürfte mich also fromm fühlen, gebotstechnisch. Nein, mehr als das. Glücklich.
Der Kaffeedampf tanzt graziös, die langen Finger der Sonne stehlen mir die Kälte aus den Fingern, die nach drei Wochen heizungsfreien Wohnens etwas klamm geworden sind. Die Kruste der aufgebackenen Semmel knuspert beim Hineinbeißen, in der Zeitung fallen mir nur die erheiternden Geschichten auf. Und die klug geschriebenen. Das Sauer der Marmelade macht sich gut auf meinem Gaumen, neben ihrem feinen Süß. Die Kräne der Baustelle stehen still und Mahlers Neunte tönt aus dem Radio. Katerchen sitzt neben mir und schaut mich mit bewundernden Augen an. Okay, er schaut mich an. Die Bewunderung dichte ich ihm an. Lag doch heute Früh ein Kärtchen vor der Tür. „Dichten wird man wohl noch dürfen“. Hatte mir eine wohlmeinende Nachbarin auf die Fußmatte gelegt.
Ich dehne und strecke mich, wie es mein Kater tut, bevor er sein Tagwerk beginnt. Das heute aus Beobachten besteht. Krähen auf Bauschutt stolzierend, Meisen im Futterhäuschen knabbernd – zu sehen gibt es genug. Das reicht. Für ihn. Soll es mir auch reichen. Ich brauche heute keine sportsgewandeten Spaziergänger, keine straff wandernden Hundehalterinnen, keine konzentriert Vitamin-D-tankenden Paare mit lederbrauner Haut. Des Katers Beobachtungsobjekte reichen mir. Mit dem kleinen Unterschied, dass ich meine Beobachtungen auf Papier kritzle. Und mich glücklich schätze, heute einmal nicht der Göttin Traurigkeit die Messe lesen zu müssen. Ich könnte mich, angenommen, die Sache mit dem Ruhegebot wäre verbrieft, glücklich fühlen. Ja, mehr als das. Ich könnte glücklich sein.
Ich bin nah dran.
© Christine Mayr 2022-01-30
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