Strick, Liesl
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Die eine hat ein Haus auf dem Land, eine Hütte in den Bergen und keinen Genierer. Wenn sie etwas will, dann besorgt sie sich das. Zum Beispiel einen neuen Namen. Berta passt nicht mehr zu mir, befand sie und fand sich einen neuen.
Es ist nicht das Haus, auf das Liesl neidisch ist. Es ist dieser fehlende Genierer, den sie auch gern hätte. Diese Einstellung, dass ihr etwas zusteht. Dass sie ein Recht hat. Dass sie das auch darf: sich besorgen, was sie will und wünscht.
„Strick mir einen Pullover, Liesl“, sagt die eine. „Einen schwarzen Wollpullover mit weißen Sternen.“
Liesl entwirft ein Sternenmuster und beginnt zu stricken. Während Berta zum Amt geht, ihren neuen Namen eintragen lassen. Clorinda. Berta ist ihr zu pausbäckig geworden.
Der Anfang ist leicht. Zwei Maschen rechts, zwei Maschen links, das übliche Rippenmuster. Da kann Liesl nebenbei denken. Zum Beispiel an die Mutter. Wie die vor den Damen kniete, während sie den Saum absteckte.
Das Sternenmuster ist schwieriger. Fäden vor und hinter die Nadel legen, Maschen zählen. Fünf weiße, drei schwarze, sieben weiße, eine schwarze, neun weiße. Wie will Clorinda diesen Pullover jemals waschen? Schwarz und weiß! Das Muster, die Sterne werden bald grau aussehen.
Ach, den muss ich nicht waschen, hört Liesl Clorinda sagen und sieht den kecken Kopfschwung des verwöhnten Mädchens. Den häng ich über Nacht ins Freie, dann ist er wie neu. Sie sieht dieses Kopfauf-Nicken, diese Unbekümmertheit, dieses Keinen-Zweifel-daran-haben, dass es für Clorinda gut ausgeht. Dass alles für sie gut ausgeht. Dass für sie immer alles gut ausgeht. Die Behördengänge, die Männergeschichten, das Leben. Liesl legt die Strickarbeit weg. Gedanken nachhängen und Maschen zählen passen nicht zusammen.
Sie hat diese Illusion gehabt, die Illusion, dass es für sie gut werden könnte. Eine Stunde lang, eine ganze Therapiestunde lang. Plötzlich waren sie da gewesen, die Zuversicht, der Glaube, die Überzeugung, das Gefühl. Dass da noch etwas kommen kann. Dass da noch etwas kommen wird. Dass sie der Asche und dem Büßergewand entfliehen kann. Dem Büßergewand für alles, was sie als Mutter, als Freundin, als Frau, als Kollegin, als Chefin falsch gemacht hat. Aufrecht ist sie im Fauteuil des Arztes gesessen und hat es geglaubt. Es könnte gut werden. Für sie. Das Leben. Ihr Leben.
Im Fernsehen eine Schneiderwerkstatt. Eine Dame steht auf dem Nähtisch. Die Frau mit dem Zentimeterband steckt den Saum ab. Stehend, aufrecht. So geht es also auch, denkt Liesl, man muss nicht vor den Damen knien.
Sie wendet sich wieder den Maschen zu. Sie zählt. Fünf schwarze, sieben weiße, eine schwarze, dreizehn weiße. Sie zählt und legt Fäden vor und hinter die Nadeln. Sie strickt. Zwölf Wochen lang, sieben Tage die Woche, eine halbe Stunde jeden Tag. Als die Fäden vernäht sind, schickt sie ein SMS. „Dein Pullover ist fertig. Ich will 350 Euro dafür. Liebe Grüße. Elisabeth. Ab jetzt und für immer: Elisabeth.“
Foto: Anastasia Zhenina/Unsplash
© Christine Mayr 2022-06-13
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