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#lebensmitteplus

Unsichtbar

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Unsichtbar | story.one

Seit ich Brille trage und die weißen Strähnen in meinen Haaren nicht mehr wegfärbe, bin ich unsichtbar. Vielleicht liegt es auch an den weichen Schuhen mit dem flachen Absatz, die durch kein Klack-Klack mein Kommen ankündigen.

Ich erwarte nicht, dass sich ein Unbekannter nach mir umdreht oder mir nachpfeift. Aber dass mich Bekannte mit leeren Augen anschauen, bar jeder Erinnerung … Männer, die mit mir ein Studium lang in Vorlesungen gesessen sind, Männer, mit denen ich ein Berufsleben lang ein lächelndes Guten Morgen ausgetauscht habe, wenn sich unsere Arbeitswege kreuzten.

Am Anfang habe ich das nicht auf mir sitzen lassen. Hallo Franz, hallo Martin, Grüß Gott Guten-Morgen-Mann, habe ich gesagt und in Gesichter ohne Erkennen geschaut. An ganz mutigen Tagen bin ich stehen geblieben und habe gesagt, weißt du nicht mehr? Philosophievorlesung, Bahnhofspassage, Bäckerei am Eck. Ach ja, doch, ich erinnere mich, haben sie dann gesagt und mich beim nächsten Mal wieder genauso leer angeschaut. Heute sage ich zu keinem mehr, hallo du, erinnerst du dich nicht? Ich lasse ihn vorbeigehen und spüre den Stich, den schmerzenden Stich. Ich möchte gesehen werden. Ich möchte. Gesehen werden. Egal wie alt ich bin, egal wie dunkel geädert meine Beine, egal wie weit das Gewand von der Figur weggeschneidert.

Sogar mein Kater ignoriert mich. Wenn ich die Tür aufsperre und aus den Schuhen schlüpfe, kommt er nicht angetigert. Er liegt auf seinem Polster und wackelt nicht einmal mit den Ohren. Außer ich habe Schuhbandeln aufzuschnüren. Dann ist er da, tatzelt nach der Litze. Schlingel, sage ich dann. Für die Bandeln interessierst du dich, für mich nicht. Ich brauche eben etwas, das meine Aufmerksamkeit erregt, grummelt er. Bei mir sind das halt Schnürln. Weil ich ein Kater bin. Wie das bei Menschenmännchen ist, weiß ich nicht. Das ist ganz einfach, sage ich. Was für dich Schnürln, das sind für Menschenmänner knackige Popos, tiefe Dekolletees und schöne Beine. Damit kann ich nicht mehr dienen.

Du verfehlst das Thema, sagt der Kater. Es geht ja nicht um Frühlingsgefühle, sondern nur um das Abnehmen der Tarnkappe. Weißt du, wie es die Französinnen machen? Egal wie dick ihre Wadl, egal wie flach ihr Busen – sie betonen das, was attraktiv ist. Etwas findet eine immer. Hat die schöne Augen, sagen die Männer dann, wow, diese Lippen. Du zum Beispiel könntest mit deiner Größe punkten. Das geht nicht nur mit hohen Stöckeln. Probier‘s doch mal mit einem Hut.

Heute habe ich die Tarnkappe gegen einen weißen Strohhut mit schwarzem Band getauscht. An den Straßentischen der Bar die üblichen fünf Schweigsamen. Guten Morgen, sagt einer, guten Morgen! Und wenn mich nicht alles täuscht, hat er mir nachgeschaut. Bis ich ums Eck war.

© Christine Mayr 2021-07-20

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