Vertrauensselig
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„Achtung!!“, rief der Mann auf dem Beifahrersitz und krallte sich panisch den Haltebügel der Autotür.
Der Traktor war plötzlich da gewesen, hinter einer Kurve. Ein großes 10-km/h-Schild prangte auf seinem Anhänger. Ich tippte leicht auf die Bremse und schaltete in den dritten Gang zurück.
Vertrauen ist noch nie die große Stärke des Mannes gewesen. Weder in meine Autofahrkünste noch in den Rest der Welt. Er trägt sein Fahrrad jeden Abend in den Keller und sperrt es – natürlich mit einem dicken Schloss gesichert – in unser Abteil. Als ob jemand seinen klapprigen Drahtesel entwendungswürdig finden könnte. Lasse ich einmal Einkäufe hinter der Haustür stehen, weil sie mir zu schwer geworden sind, wuchtet er sie nach der Arbeit wutschnaubend in die Wohnung und wirft mir übertriebene Vertrauensseligkeit vor.
Vor der Begegnung mit der landwirtschaftlichen Verkehrsbehinderung hatten wir unsere Zehen in den goldenen Sand eines Gletscherbachs gewühlt und eine Gämse beim leichtfüßigen Klettern beobachtet. Dann waren wir wieder ins Auto gestiegen und die enge, kurvenreiche Straße talauswärts gefahren. Kein einziges Mal musste der Mann abruptes Bremsen ertragen oder bangen, wir könnten ins Bett des reißenden Baches stürzen. Trotzdem saß er angespannt neben mir und schaute starr geradeaus, anstatt das Grün der Latschen und das Weiß der Schneereste zu würdigen. Oder das Rauschen des Bachs zu genießen, das nach jeder Kurve anders klang. Mal flüsternd, mal überschäumend.
Ich schaltete in den zweiten Gang und stellte mich darauf ein, eine Weile hinter dem zuckelnden Vehikel dahinzuschleichen. Die Fenster ließ ich hinunter und hoffte, der Bach würde etwas von Vertrauen und kein-Grund-zur-Panik singen. Da zog das Vehikel vor mir plötzlich nach rechts und blinkte. Blieb aber nicht stehen, sondern fuhr blinkend weiter. Ich verstand das wortlose Signal: Überhol! Die Straße ist frei.
Ich hatte keine Chance, das zu überprüfen, denn vor uns stieg die Fahrbahn eine Kuppe hinauf und zeigte nicht, was sich dahinter verbarg. Vertrauen oder nicht, war deshalb die Frage. Blind vertrauen, um ganz genau zu sein. Einem Unbekannten. Ich riskierte einen kurzen Blick auf meinen Nebenmann und sah, dass er die Augen schloss. Vermutlich fragte er sich, womit er es sich verdient hatte, von einer Frau ins Jenseits befördert zu werden.
Ich stieg aufs Gas. Zog nach links. Dritter Gang, vierter Gang, Kuppe.
Vor uns die mäandernde Straße hinaus aus dem Tal. Abschüssig und leer.
Ich dankte dem Herrn Traktor mit einer Handbewegung vor dem Rückspiegel und machte mich auf der rechten Spur davon. „Du kannst die Augen wieder aufmachen“, sagte ich zu dem Mann ohne Vertrauen. „Wir sind im Himmel.“
Draußen vor dem Tal setzten wir uns mit einem Weißbier in den Schatten einer blühenden Kastanie und allmählich begriff er, dass er überlebt hatte. In den Himmel wäre er sonst nämlich nicht gekommen.
© Christine Mayr 2022-05-20
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