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Vitamin D

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Vitamin D | story.one

Heute habe ich der Stadt die Stirn geboten. Dieser verdammten Stadt, die mich gestern erschlagen hat. Mit ihrer zugesperrten Gastro, den Absperrbändern vor den books to go, mit all den Schnabelgesichtern, die herumlaufen, als wären sie zum Casting für „Die Pest“ geladen. Die kleine Frau, die immer gebückt nach Abfall sucht, hat mir dann den Rest gegeben und ich musste schleunigst heim. Daran konnte auch die Tram mit ihrem auf die Schnauze lackierten Mund-Nasen-Schutz nichts ändern.

Und heute musste ich wieder hinein. Mir einen Tipp von der Hausärztin abholen. „Vitamin D“, hat sie gesagt, „Sie brauchen Vitamin D. Das hebt die Stimmung. Gehen Sie in die Sonne.“

In der Cafeteria neben ihrer Ordination ein Schild. „Wie fühlst du dich ohne Kaffee?“, fragte es und gab auch gleich die Antwort: „Depresso. What else?“ So ist es, habe ich mir gedacht und bin mir einen Espresso kaufen gegangen, ohne böses D. Dann habe ich mir einen Platz in der Sonne gesucht – für das gute D – und einen freien Müllkasten gefunden. Die Mülleimer in Innsbrucks Prachtstraße eignen sich ja prächtig als Wirtshaustisch-Ersatz. Ich habe Kaffee und Aschenbecher auf dem glatten, flachen und fast sauberen Deckel abgestellt und mich umgesehen.

Beste Gesellschaft rundherum, und höchst demokratisch. Kostüm und Anzug an einem Mülltisch mit Jeans und farbenreichem Schal. Boss-Tüte im gebotenen Abstand neben Sparsackl. Das gibt es hier sonst nie. Hier hat man – sonst – zu wissen, wo man hingehört. Und weiß es auch, meistens. Und hält sich daran. Slim Fit trinkt seinen Mango-Smoothie nicht im selben Revier wie Hosenträger sein Bier. Aber Lockdown macht anscheinend Demokratie.

Heute ist die Straße nicht in Klassen, Schichten, Geldbörsengröße und Politgeschmack unterteilt, heute ist sie Flanier- und Gustiermeile für das vermischte Volk. Denn die Gärten sind ja geschlossen, die sonst so akkurat abgesteckten Reviere nicht da. Kein ausladender Schirm, der zum Verweilen einlädt, kein Zaun, hinter dem man geschützt unter seinesgleichen ist. Alle der Straße preisgegeben, außen vor. Und damit nicht allein. Jeder gehört dazu, keine ist außen vor, weil ja alle außen vor sind. Ohne Unterschied. Egal ob behutet, bemützt, betucht oder behelmt, egal ob vegan, vegetarisch oder Karnivore, ob in Lederschuhen oder Waldtretern, egal ob Hose mit Bügelfalte oder Rissen, egal ob Grüß Gott oder Guten Tag, ciao oder tschüss. Vereint im Ausgesperrtsein aus Bars und Restaurants, Gaststuben und Kaffeehäusern teilen wir uns die blasse Pracht der Straße, die Kälte unserer Heißgetränke und den Schmutz unter unseren Mittagessen.

Vielleicht war deshalb zwei Zigarettenlängen lang aufgeräumte Ruhe in meinem inneren Kuhstall. Vielleicht aber auch einfach wegen dem D, das dem Espresso nicht abging und die Sonnenstrahlen lieferten.

Foto: chrim

© Christine Mayr 2021-02-06

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