skip to main content

Werkunterricht

  • 74
Werkunterricht | story.one

Er sitzt auf seinem dreibeinigen Hocker, vor sich das wackelige Tischchen mit dem Notebook darauf. Leere Bierflaschen und volle Aschenbecher zeugen von seinen nächtlichen Orgien mit der Muse. Einen ganzen Roman hat er schon auf der Festplatte liegen, der zweite ist über die Mitte fertig.

Gerade will er seinen Laptop zuklappen, da nimmt er eine Bewegung wahr. Etwas krabbelt eines der versifften Biergläser hinauf. Am oberen Rand angekommen, wackelt es mit seinem Hinterteil und stakst wieder nach unten, ein Bein nach außen gestreckt. Es trippelt die paar Bleistiftbreiten bis zur Bierflasche, steigt gemächlich bis zum Hals hinauf, pausiert kurz, tätschelt das Glas mit hinten und jetzt sieht er es: Es hat mit dem ausgestreckten Bein einen Faden gespannt. Kaum sichtbar. Nur wenn das Licht der Neonröhre aufflackert, sieht er ihn schimmern. Oh ja, denkt er, eine Spinne müsste man sein. Netze knüpfen, das können die. Ganz im Gegensatz zu ihm. Der daheimsitzt und sich wundert, warum die Welt sein Werk ignoriert.

Die Spinne tanzt nun auf dem Seil, das sie zwischen Flasche und Glas gespannt hat, zurück. In der Mitte macht sie halt und seilt sich ab. Er rückt nah an sie heran. Hellbraun-golden ist sie, die Beine dezent behaart. „Guten Abend, Frau Spinne“, sagt er. „Sie sind ja eine ganz Hübsche.“ Kurz hält sie inne, um den Abseilfaden auf der Tischplatte festzutackern. Dann klettert sie daran hinauf. „Guten Abend auch. So freundlich werde ich selten begrüßt. Und hübsch hat mich noch kein Mensch genannt.“

„Darf ich Ihnen beim Netzwerken zuschauen? Ich könnte nämlich ein paar Tipps gebrauchen.“

„Bitte. Aber ich werde Sie enttäuschen, denn ich bin nicht überall hübsch“, sagt die Achtbeinige, als sie oben angekommen ist, dort, wo sich die bisher gesponnenen Fäden kreuzen. Sie wackelt wieder mit ihrem Hinterteil und er sieht, was sie gemeint hat. Auf ihrem unteren Rücken hockt ein Ding, schwarz und hässlich wie eine Warze. Da presst sie das Fadenmaterial heraus. Nach ein paar Minuten spannt sich zwischen Bierflasche und Glas ein Gerüst aus Speichen. Diese verbindet die fleißige Spinne nun mit Querfäden. „Das ist ja ein komplizierter Tanz, den Sie da aufführen“, sagt er.

„Ja, ich muss höllisch aufpassen, denn die Querfäden sind klebrig. Ich darf mich nur auf den Speichen abstützen, sonst bleib ich selber picken, in meinem eigenen Netz. Tricky, was?“

„Alle Achtung.“

„Gelernt ist gelernt. Und jetzt gute Nacht.“

Madame Spinne ist in der Mitte ihres nun dicht gesponnenen Netzes angekommen. Ihre Arbeit ist getan. Erschöpft hängt sie sich in die Seile, streckt alle Achte von sich. Jetzt muss nur noch die Mahlzeit einfliegen.

Was die auch bald tut. Es ist eine kleine Motte. Noch während sie im Schock zappelt, stürzt sich die Spinne hungrig darauf. „Guten Appetit“, sagt er. „Über die Motte reden wir ein andermal.“

© Christine Mayr 2022-02-04

Kommentare

Gehöre zu den Ersten, die die Geschichte kommentieren

Jede*r Autor*in freut sich über Feedback! Registriere dich kostenlos,
um einen Kommentar zu hinterlassen.