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Wickis frische Zöpfe

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Wickis frische Zöpfe | story.one

An jenem Morgen, an dem die Bäckerin von Schilda mit einem Kater erwacht war und Zöpfe anstelle von Brezen geflochten hatte, stand sie in ihrer Backstube und rieb ihre Nase. Was sollte sie mit den Zöpfen anstellen? Just in diesem Augenblick begann es zu hageln und durch das Loch im Dach fielen zuckerstückgroße Hagelkörner auf das Blech mit den Zöpfen. „Welch lieblicher Anblick!“, rief die Bäckerin entzückt und schob die Zöpfe in den Backofen. Als sie zimtbraun gebacken waren und nach Hagelzucker dufteten, holte die Bäckerin eine Tafel. „Wickis frische Hagelzimtzöpfe“, schrieb sie darauf und stellte sie vor ihren Backladen.

Bald kam die Schmiedin und verkostete die neue Leckerei. Die schmeckte vorzüglich und die Schmiedin lief schnell nach Hause und raunte ihrem Schmied zu: „Ich verrate dir ein Geheimnis. Die frischen Zöpfe bei Wicki sind noch besser als ihre Brezen.“ Während die Schmiedin ein Hufeisen bog, stahl sich der Schmied aus dem Haus und lief zum Schweinehirten. „Die Bäckerin hat eine neue Köstlichkeit erfunden“, flüsterte er diesem ins Ohr, „aber das muss unter uns bleiben“. „Natürlich“, sagte der Schmied und ging zur Pfarrerin. Im Vertrauen auf das Beichtgeheimnis berichtete der Schweinehirt von den sündig guten Hagelzimtzöpfen der Bäckerin.

Weil die Pfarrerin tagaus, tagein ihr Ohr den Sünderinnen lieh, war es taub geworden und sie verstand nur „Zöpfe“. Noch während der Schweinehirt das Kreuz schlug, eilte die Pfarrerin zur Perückenmacherin und verlangte die neue Haartracht. Die gewitzte Kauffrau ließ sich nicht ins Bockshorn jagen und sagte: „Die frischen Zöpfe sind heute leider schon aus. Komm doch morgen wieder.“ In der Nacht schlich sie in den Stall der Fleckviehzüchterin und schnitt Kuh Linde den Schweif ab. Aus den Haaren flocht sie zwei dicke Zöpfe und bestrich die weißen Flecken mit brauner Sattelfarbe.

Am nächsten Morgen brachte die Perückenmacherin ihr Werk ins Widum. Die Pfarrerin strich stolz über die neue Haarpracht und stellte sich vor, wie schick sie damit aussehen würde. Nachdem sie die Zöpfe eine Weile gestreichelt hatte, hatten diese weiße Flecken und die Finger der Pfarrerin waren zimtbraun. „Oh, du gerissenes Weibsbild!“, fluchte sie und schwor der Zopffälscherin Rache. Sie legte die Zöpfe in eine Lade und ging in die Kirche, um das Hochamt zu lesen.

„Manche Schildbürgerin treibt mit ihren neuen Zöpfen Schindluder“, sagte sie von der Kanzel herab. Die Schildbürgerinnen in ihren Betstühlen erschraken und schauten sich ängstlich um. Wer hatte das Geheimnis von Wickis Hagelzimtzöpfen verraten? „Um ihren Kundinnen weiszumachen, die Haarfee hätte frische Zöpfe geliefert, greifen sie zu einer List.“

Durch die Gebetsreihen ging ein erleichtertes Aufstöhnen. Keine hatte das Geheimnis von Wickis frischen Hagelzimtzöpfen verraten. Übermütig bespritzten sich die Schildbürgerinnen mit Weihwasser, nur die Perückenmacherin schlich beschämt nach Hause.

© Christine Mayr 2022-09-16

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