Wir verzehren öffentlich
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„Hoch verehrtes Publikum, Zirkus Corona heißt Sie herzlich willkommen! Bei uns – und nur bei uns – sehen Sie heute Mittag die neuesten akrobatischen Nummern. Sie werden staunen! Folgen Sie mir in die Stadt, verlassen wir gemeinsam die Manege, freuen Sie sich auf unsere Künstlerinnen und Künstler, deren kreative Einfälle alles in den Schatten stellen, was Sie bisher gesehen haben! Darbietungen, die größte Geschicklichkeit und höchste Motivation erfordern. Kommen Sie mit, seien Sie gespannt auf Tinolivias Show ‚Öffentlicher Verzehr‘.
Vor dem Thai to go tänzelt ein Kapuzenjunge in weißen Sneakers. Er haucht in seine Hände, bis er endlich seine gebratenen Nudeln bekommt. Dann schaut er sich suchend um. Aber da ist nur Platz, keine Sitzgelegenheit. Er stellt sich ins Irgendwo, in der linken Hand den Tütenkarton, in der rechten die Stäbchen. Fingerfertig schält er sie aus ihrer Hülle und fischt sich die erste Portion Nudeln aus ihrem to-go-tauglichen Napf. Dann futtert Tino geübt und schnell. Die Zeit läuft, gegen die Kälte.
„Bravo, Tino, bravo! Du hast es geschafft! Die letzte Nudel war noch ein bisschen warm. Nun kommen wir zu Livia und ihrer Nummer ‚Acht Schätze auf Mülltonne‘. Folgen Sie mir, verehrte Damen und Herren, folgen Sie mir!“
Neben einem Haustor steht ein vergessener Altpapiercontainer. Auf seinem Deckel hat Livia ihr chinesisches Abholessen angerichtet. Die Box mit den Acht Schätzen steht auf einer weißen Papierserviette, der Reis dampft noch aus seiner Alufolie. Livia tunkt ihn Löffel für Löffel in das Gemüse-Fleisch-Geschnetzelte. Sie ist zufrieden. Und bald auch satt.
„Bravo, Livia, bravo! So stilvoll wie du verzehren wenige öffentlich! Sehen wir uns nur Tinos nächste Nummer an.“
Tino hat sich auf einen Fahrradständer gesetzt. Nein, er sitzzappelt, schaukelt von einer Pobacke zur anderen, das Metallgestänge ist jännerfrostig. Mit fingerfreien Handschuhen zupft er das Papier auf, in das seine Fleischkässemmel verpackt ist und beißt herzhaft hinein. Fetttropfen sprühen, Senfkleckse betupfen die Jacke. Was soll’s, zuckt Tino mit den Schultern, die metallene Kälte der stangeligen Sitzgelegenheit ist unangenehmer.
„Tapferer Tino, braver Tino! Seine Mutti sagt immer, man isst nicht im Gehen. Das hat Livia zu ihrem Vertical Dance inspiriert.“
Livia wird Glasnudelsuppe essen – aus dem Einweckglas. Sie lehnt sich vorfreudig an eine Hausmauer und lässt den Verschluss aufschnappen. Köstlicher Duft steigt in ihre Nase und sie stützt ihr linkes Bein an der Mauer ab. Es darf ruhen, während sie ihre Suppe löffelt und der Gaumen genießt. Dann klopft sie sich den Mauerstaub vom Rücken und bringt das Glas zur Ausgabestelle zurück. Sie leckt sich die Lippen und wickelt ihren Schal hoch um den Hals.
„Das, meine Herren und Damen, war unsere letzte Hungernummer für heute. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit! Zirkus Corona wünscht Ihnen noch einen schönen Tag und guten Appetit!
© Christine Mayr 2022-02-23
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