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Zunder werfen

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Zunder werfen | story.one

Sonntags, wenn der Abendstern die Himmelsleiter erklommen hatte, fanden sich Schildbürgerinnen, denen das Alleinsein bis zum Halse stand, vor den Toren des Städtchens zum Tanze ein. Sie tupften sich das Rot einer Schildlaus auf die Lippen, flochten ihre Haare zu kunstvollen Zöpfen und beringten ihre Finger und Zehen. Denn vom benachbarten Übersee und aus dem fernen Felsland kamen Kavaliere, um sich nach einer passenden Lieb-Haberin umzusehen.

Eines Abends gesellte sich auch die Stadtschreiberin dazu. Vor dem Eintritt musste sie sich einer strengen Prüfung unterziehen, denn die Kupplerin wollte nicht, dass sich Trolle oder Elfen unter das balzwillige Volk mischten. „Welche Summe ergibt eins und eins?“, fragte sie und die Stadtschreiberin antwortete ohne zu zögern: „Null“. Nur waschechte Schildbürgerinnen verfügten über dieses geheime Wissen, folglich wurde sie eingelassen. Anschließend verteilte die Kupplerin Petroleum-getränkte Lappen, wie sie in Schildas Häusern als Zunder verwendet wurden, und verlas die drei Regeln des Balztanzes: Erstens: Sei du selbst! Zweitens: Nimm dir Zeit! Drittens: Du bekommst keine zweite Chance.

Der erste Kavalier ritt auf einem sehr weißen Schimmel ein, was der Stadtschreiberin gefiel. Doch sein Visier war heruntergeklappt, was ihr weniger gefiel. Der zweite zeigte sein Gesicht, saß aber auf einem lahmenden Rappen. Der dritte thronte eitel auf einem Muli, der vierte versuchte, seinen Buckel unter einer übergeworfenen Decke zu verstecken. Der Stadtschreiberin Mut sank. Wenn das so weiterginge, würde sie wieder einen Winter lang über ihren Büchern sitzen und sich vor Einsamkeit die Finger wundschreiben.

Der nächste Reiter ließ seinen Braunen tänzeln und jonglierte mit vier Zundern. Sein Lächeln gefiel ihr und sie warf ihm einen Zunderlappen zu. Der Reiter quittierte das mit einem knappen Nicken und Hoffnung entflammte im Busen der Stadtschreiberin. Doch bevor der Reiter die Arena verließ, warf er ihren Zunder achtlos weg. Ihr Herz ward schwer und sie begann leise zu schluchzen.

Da betrat der letzte Bewerber den Ring. Er schritt zu Fuß einher, hatte weder Rüstung noch Rüstzeug und pfiff ein munteres Liedchen. Die Stadtschreiberin meinte, den Kavalier zu kennen, konnte sich aber nicht entsinnen, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte. Im schmeichelnden Licht der Fackeln dünkte er ihr ansehnlich und bevor er durch die Lappen ging, warf sie ihm ihren Zunder zu. Er fing ihn mit der linken Hand, entzündete ihn und warf ihn in die Feuerschale. Der Stadtschreiberin Herz hüpfte vor Freude. Vielleicht war ihre Liebesmüh ja doch nicht vergebens gewesen. Das Feuer loderte auf und sie verließ ihr einsames Kabäuschen. Über den Flammen wärmten sie miteinander ihre Hände und sahen einander tief in die Augen. Am nächsten Morgen tanzten sie bei der Heiratsvermittlerin an und geben sich das Ja-Wort. Der Schildermaler und die Stadtschreiberin.

(Tinder zum 10. Geburtstag)

© Christine Mayr 2022-08-26

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