Zur schönen Aussicht
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Inmitten des Städtchens Schilda erhob sich ein Hügel, zu dem Volk von nah und fern pilgerte, um der schönen Aussicht zu huldigen. Eines Tages entglitt einer der Pilgerinnen der Pilgerstab und rollte den Hügel hinunter. Sie lief ihm hinterher, um unverzüglich im Rathaus Beschwerde zu führen. „Ihr lasst uns völlig ungeschützt auf eurem Hügel sitzen! Wir begehren, dass Ihr einen Wall errichtet, auf dass keine Pilgerin je den Hügel hinunterkullert.“ Da errichteten die Schildbürgerinnen ein Mäuerchen und als der letzte Stein aufgesetzt war, zeigten sie es den Pilgerinnen. „Ihr Einfaltspinsel!“, riefen diese. „Das Mäuerchen reicht uns bestenfalls bis zum Knie. Da können wir allzu leicht darüberstolpern.“ Also stockten die Schildbürgerinnen das Mäuerchen zu einer Mauer auf, die den Meckerziegen bis zum Busen reichte. Doch diese meckerten wieder. „Einem Riesen hilft eure Zwergenmauer rein gar nichts!“ Und da in Bälde das Kräftemessen zwischen dem tapferen Schneiderlein und den zwei Riesen bevorstand, legten die Schildbürgerinnen noch alle Steine auf den Wall, die ihr Steinbruch vorrätig hatte. Nun war die Trutzmauer so hoch, dass sich ihr Schatten über ganz Schilda legte. Doch die Schildbürgerinnen jammerten nicht. „Was für ein Glück!“, riefen sie. „Nun haben wir vor allen Meckerziegen und Meckerfritzen unsere heilige Ruhe.“
Das Glück dauerte jedoch nur ein paar Tage, denn alsbald standen die sieben Zwerge in Begleitung von Rapunzel vor dem Rathaus und verlangten, angehört zu werden. „Ihr tumben Schildbürgerinnen“, maulten sie. „Eure Mauer ist für uns Zwerge zu hoch und für Rapunzels Zopf zu niedrig. Könnt ihr es nicht uns allen recht machen?“
„Das scheint mir ein Ding der Unmöglichkeit zu sein“, meinte die Schulmeisterin, doch die Bäckerin wendete ein: „Unmögliches erledigen wir Schildbürgerinnen doch immer gleich. Wir blasen einfach eine Mauer aus Glas. Dann ist alles zu aller Zufriedenheit.“ „Was für eine kluge Idee“, stimmten ihr die anderen zu und rollten die Steine wieder in den Steinbruch. Dort aber verdunkelte Schildas Vogelschar den Himmel und der Rohrspatz schimpfte. „Ihr Läppinnen! Wenn wir euren Wall nicht sehen können, werden viele uns vorzeitig ihr Leben lassen müssen.“ Nun wussten sich die Schildbürgerinnen keinen Rat mehr. Sie zogen sich bei Wasser und Brot in ihr Rathaus zurück und warteten auf ein Wunder.
Während ihre Vorräte langsam zur Neige gingen, tobte ein heftiger Sturm über Schilda und hatte Wüstenstaub im Gepäck. Als sich die Schildbürgerinnen wieder auf die Straße trauten, empfing sie munteres Zwitschern. „Danke!“, tschilpte der Rohrspatz. „Der Staub, den ihr in der Sahara bestellt habt, macht das Glas vortrefflich sichtbar.“ Er flog hinauf zum grünen Hügel, wo die Köpfe der beiden Riesen über die Brüstung schauten, während die sieben Zwerge Aussichtsflecken putzten und Rapunzel seinen Zopf über die Mauer baumeln ließ. Nur die Meckerziege war nirgends zu sehen.
© Christine Mayr 2022-08-31
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