Male und zeichne weiter, Linda!
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"Ihre Tochter macht mit Steinen die Wände kaputt, das geht so nicht weiter!" - mit diesen Worten werde ich eines Morgens im öffentlichen Kindergarten in Houmt Souk, Djerba, konfrontiert. Meine Tochter zeichnet an die Wand, weil ihr kein Papier gegeben wird…
Es gibt keine wirkliche Alternative zu dieser Einrichtung, die privaten Kindergärten sind noch viel schlimmer - sind reine Geldquellen für deren InhaberInnen – alles wirkt wie in Heimatfilmen aus den 50-ern. Die Zimmer ähneln Klassenräumen und haben hellblaue, -gelbe oder -rosa Wände. Hinter dem "Lehrerpult"hängt ein großes Bild des Präsidenten Ben Ali. An den Seitenwänden sind Zeichnung von Kindern, die in selbstgebastelten metallisch-schimmernden Geschenkpapierrahmen aufgeklebt sind. Große A1-Kartons mit Zahlen und auch arabischen Buchstaben (mit Bildchen von Wörtern, die mit dem Buchstaben beginnen) hängen an der anderen Seite. Es gibt hölzerne Sitzbänke für 3–4 Kinder und Tische. Keine Spielsachen, keine Kuschelecke… Es schmerzt mein österreichisches Herz zu sehen, dass meine erstgeborene Tochter so einen Kindergarten besucht, aber ich will das Beste daraus machen.
Als mich die Kindergarten-Betreuerin Souad an diesem Morgen beim Ankommen daher auf Linda's Kunstwerke neben dem Eingang zu ihrem Klassenzimmer aufmerksam macht, wird mir bewusst, dass für meine Tochter das Lernen von Gedichten, Koransuren, Linien-Nachfahren und das repetitive Nachsprechen von Lerninhalt bei Weitem nicht ausreichend sein konnte. Sie war gewohnt wie zu Hause viel zu basteln, zu zeichnen. Ich erwidere der "Tante", dass ich ab sofort Linda Malsachen und Papier in ausreichender Menge jeden Tag in einem Köfferchen mitgeben werde und ich davon ausgehe, dass dies auch meiner Tochter gelassen würde. Sie könnte somit ihre kreativen Ideen auf Papier ausleben – und die Hauswände verschonen...
Linda hat 3 Jahre lang immer ihren Bleistift und Radiergummi, die Farbstifte, Filzmaler und ausreichend Papier mit und zeichnet und malt tolle Bilder. Nach 7 Schuljahren in der öffentlichen tunesischen Schule und 5 Jahren in der französischen Schule ist dieses Talent leider ziemlich in Vergessenheit geraten.
Sie geht nach der Matura in die wunderschöne Stadt Nizza an der Côte d'Azur und versucht ein passendes Studium zu finden: Sprachen, Wirtschaft… Es fühlt sich alles nicht gut an! Ich gebe ihr die Zeit sich zu finden und eines Morgens ruft sie mich um 5h an und meint: "Jetzt weiß ich was ich studieren will: Interior Design – ich hab immer schon so gern gezeichnet!". Ich willige mit einem tollen Gefühl ein und sie legt los.
5 Jahre später schließt Linda ihr Studium als "Majeure de Promo" – als Jahrgangsbeste – ab und ist mit Leib und Seele dabei.
Male und zeichne weiter meine Linda!
© die_sage_der_gudrun 2020-07-17
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