Morgengrauen
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Besser würde es wohl nicht mehr werden, das war sie jetzt. Marie drehte sich vor dem Badezimmerspiegel hin und her. Wann hatte sich die Müdigkeit in ihre Gesichtszüge eingeschlichen? Den Zeitpunkt hatte sie verpasst. Sie war sicher zu beschäftigt gewesen, wie es sich für eine Doktorandin gehörte.
Alter war ein anderes Wort für Müdigkeit. Niemand wollte an das Alter glauben, aber die Müdigkeit lehrte die Vergänglichkeit und die Resignation. Denn einem müden Menschen ist alles egal, er sehnt sich nur noch nach Schlaf. Sie zog den Vergrößerungsspiegel näher heran und betrachtete ihren Mund. Sie war sich nicht sicher, ob die dünnen Einschnitte rechts und links oberhalb ihrer Mundwinkel hässlich waren. Aber sie spürte die Schwere, die diese Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Wie viele schlaflose Nächte hingen in ihren Mundwinkeln?
Sie trank einen Schluck Kaffee, der einen feucht-glänzenden Film auf ihren Lippen hinterließ. Die Falten waren ihr egal. Aber was, wenn die Müdigkeit nie wieder wegging und sie gezwungen war, jeden Abend vor Mitternacht ins Bett zu gehen? Die interessantere Hälfte des Lebens spielte sich nachts ab. Wenn sie auf dem Weg war, langweilig und alt zu werden, musste sie sich mit aller Kraft dagegen stemmen. „Scheiß auf dich!“, sagte sie zur Müdigkeit im Spiegel.
Um halb fünf saß sie alleine auf einer Parkbank, gerade eben außerhalb der Reichweite des Party-Viertels. In ihren Ohren dröhnte die Musik weiter. Die Sonne schlich sich langsam über den Horizont und Marie sah ihr lethargisch dabei zu. Fünf Tequila-Shots hatten sie nicht ausreichend betäubt, um die dumpfe Schwere in ihrem Körper zu vergessen. Vor ihren starr aufgerissenen Augen tanzten die Körper weiter im Dunst von Schweiß und zuckendem Licht. In ihrer Nase klebte der süßlich-widerliche Geruch von alkoholgeschwängerten Luft. Auch der kühle Morgenwind vermochte nicht, ihn zu vertreiben.
Die Dunkelheit war dazu da, die Wahrheit zu verbergen. Aber jetzt waren nur noch Reste von ihr übrig: die Schminke verlaufen, in der Kleidung der Geruch von fremdem Schweiß – alles hässlich ohne den Charme der Jugend. Es wurde immer heller und bald würden die ersten Leute sich auf den Weg zur Arbeit machen. Nur der Gedanke, als Überbleibsel der letzten Nacht hier sitzen zu bleiben, gab ihr den nötigen Schub sich durch die erwachende Stadt nach Hause zu schleppen. Auf der Flucht vor dem Morgengrauen.
© Effi-Lind 2021-08-14
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