Cranach und seine Brüste
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Während des Malerei-Studiums habe ich in einer Kunstgeschichte-Prüfung die folgende Argumentation geschrieben (sinngemäß). Zuvor hatte meine Professorin in ihrer sehr spannenden Vorlesung von Cranach erzählt, und dass er – als Mann – das Motiv der Venus lieber malte, als das der Lucretia, was sie aus der Quantität seiner Venus-Bilder und seiner Lucretia-Bilder schlussfolgerte. (Anm.: Lucretia stieß sich einen Dolch ins Herz, weil sie nach einer Vergewaltigung nicht weiterleben wollte.) Und dass er außerdem seine Lucretia-Bilder viel weniger spektakulär malte als zum Beispiel Artemisia Gentileschi, Malerin und eine der wenigen Frauen, deren Name und deren Bilder aus der vergangenen Kunstgeschichte bis in die Gegenwart überlebt haben.
Während man in den Bildern, die Artemisia gemalt hat, den Schmerz und die Überwindung sieht, die es braucht, um diesen Schritt zu tun, hält sich die Lucretia von Cranach den Dolch ans Herz, wie einen Maßstab oder ein ähnliches ungefährliches Werkzeug. Er malt nicht die Tat. Er malt eine Frau die etwas in der Hand hält, das auch ein Tatwerkzeug sein kann.
Ich hatte nun bei der Prüfung die Vermutung geschrieben, dass es ihm nicht darum ging, wirklich eine Lucretia mit ihren Ängsten und ihrem Mut zu malen. Sondern darum, eine nackte Frau malen zu dürfen. Was in jener Zeit nur „erlaubt“ war, wenn es sich um Allegorien oder Figuren aus der Mythologie handelte. Um blanke Brüste ging es ihm. Und er malte sie wunderschön. Ich liebe diese eingefrorene, steife und doch anmutige Schönheit seiner Bilder. Doch es war ihm wohl egal, welches Attribut er diesen gemalten Frauen in die Hand drückte, ob Venus-Spiegel oder Lucretia-Dolch, die Frauen selbst bleiben davon ähnlich unbeeindruckt. Fern und unnahbar. (Und potentielle Käufer sahen wohl lieber nackte Frauen, die sich nicht gleich umbringen werden.)
Das Motiv ist oft nicht das Motiv. Meiner Meinung nach malte Cranach also nicht Venus. Und er malte nicht Lucretia. Er malte nackte Frauen. Vielleicht, weil es ihm selbst Freude machte. Vielleicht, weil sich das gut verkaufen ließ.
Und ich meine behaupten zu wollen, dass einem in dem oben beschriebenen Fall „Wissen“ sogar hinderlich ist. Es also sogar manchmal förderlich ist, nicht viel über Kunst zu wissen. Weil Menschen ohne Kunstgeschichte-Hintergrund kommen erst gar nicht auf die Idee, dass er etwas anderes gemalt haben könnte als eine nackte Frau. Weil sie die Attribute nicht kennen und erkennen, die eine nackte Frau zur Venus machen oder zur Lucretia und so weiter.
Wissen kann helfen. Und Wissen kann im Weg stehen. Weil es einem dann – fast zwingend – nur mehr diese eine Möglichkeit zulässt, die einst erlernt wurde: Spiegel = Venus. Dolch = Lucretia. Feigenblatt/Apfel =Eva.
Neues dazulernen kann man immer, Angelerntes wegblenden ist schon schwieriger (bzw. es nicht als einzige Möglichkeit zu sehen).
© Eva Hradil 2022-10-14
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