skip to main content

#tanzen#individualität#tanz

Der kleine Unterschied

  • 106
Der kleine Unterschied | story.one

“Schritt-Schritt-Wiegeschritt-und-Rück-Seit-Pause”

Wer diesen Rhythmus im Ohr oder gar in den Beinen hat, der kennt und tanzt den “Standard/Latein”-Tango. Man lernt lange Figurensequenzen, Herren und Damen jeweils eigene, die einander ergänzen. Der Tanz hat etwas Zackiges, ist quasi im hinkenden Zickzackornament des obigen Rhythmus gemustert.

Im Tango Argentino ist der Takt viel gleichmäßiger, ein 4/8 oder 2/4 Takt, weich, fast träge, manchmal fordernd, selbstmitleidig, eifersüchtig. Andererseits wechseln oft innerhalb eines Musikstückes Tempo und Stimmung. Und beim Tanzen dieses Tangos wird improvisiert - jeder einzelne Schritt wird geführt, verändert, angepasst - dadurch ist er viel freier in seinen Möglichkeiten.

Die erste bewusste Berührung mit ihm hatte ich also mittels eines Videos mit sehr alten Paaren. Die zweite war an einem Donnerstag in Wien, in einer Milonga – so nennt man einen Abend, an dem argentinischer Tango getanzt wird. Nachdem ja der Plan gefasst war, für ein halbes Jahr diesem Tanz den Vorzug zu geben, begab ich mich dorthin. Mit meinen Standard-Tanzschuhen.

Ich positionierte mich so, dass ich direkt auf die Tanzfläche sehen konnte. Und dort, sitzend, beobachtend, staunend, begannen die Zauberkräfte zu wirken; noch ohne selbst einen Schritt darauf gesetzt zu haben. Ich sah die Gesichter der Frauen, kein geschwurbeltes Herumwerfen der Köpfe, kein Zack-Zack. In den Gesichtern sah ich etwas, was mich an die losgelöst konzentrierte Glückseligkeit einer anderen Tätigkeit erinnerte, kurz vor oder während oder kurz nach deren Höhepunkt.

Jedes Paar war anders. Mich berührte diese Individualität so unheimlich. Jedes Paar tanzte in seiner eigenen Energie. Jedes Paar war ein kleines Universum, und die Summe der Tanzenden wurde zu einer Milchstraße. Ehrlich – schon bei dieser allerersten Milonga, noch ohne einen Schritt tanzen zu können, erfasste mich dieser Tanz mit einer Kraft, die mich seither nicht loslässt.

Doch zuvor gab es noch eine Aufgabe zu lernen. Als ich da saß und die Menschen Wange an Wange tanzen sah, oder Nasenrücken an Wange, war für mich ungefragt klar, dass diese Menschen auch im Leben Paare sind. Nicht nur die Nähe der Gesichter zueinander brachte mir diese Idee, auch diese spürbaren Kräfte der Verbindungen. Doch zehn Minuten später lösten sich die Konstellationen. Und die Milchstraße formierte sich neu. Mit ganz neuen Gefügen darin.

Echt krass. Dachte ich.

Ich will auch in so einer Intensität tanzen. Spürte ich.

Und die Woche darauf besuchte ich meinen ersten Tangounterricht. Weil, auch wenn ich mich da einmal gut eingefühlt hatte in den Impuls eines Herrn, lernen muss man es schon. Und zwar lange. Und: Man ist nie damit fertig. Tango ist wie das Leben. So lange man dazulernen kann, macht es Freude und Neugierde.

© Eva Hradil 2021-09-28

Kommentare

Gehöre zu den Ersten, die die Geschichte kommentieren

Jede*r Autor*in freut sich über Feedback! Registriere dich kostenlos,
um einen Kommentar zu hinterlassen.