Der unnötige Tod der Einhundertdreijährigen.
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Heute war ich zum ersten Mal in der Wohnung der Verstorbenen. Sie wohnte unter mir. Zu ihren Lebzeiten war ich kein einziges Mal dort. Heute dafür war ich gleich überall, auch im Klo und im Bad. Und das alles am kleinen Bildschirm eines Mobiltelefons.
Carmen hatte mir das Inserat gezeigt, auf einer Website für Immobilien. Weil die Wohnung fast gleich geschnitten ist – wie meine – und dort im Inserat ein richtig fettes Geld dafür verlangt wird.
Als die Einhundertdreijährige sich auf den Weg gemacht hatte, ihre Wohnung im Herbst 2020 zu verlassen, wollte sie Krankheit vermeiden. Vielleicht wollte sie aber auch nur folgsam sein. Man solle sich gegen Grippe impfen lassen, hieß es. Was – mit ein wenig Hausverstand – doch fast obsolet erscheint, oder irrt sich da jetzt mein eigener Hausverstand? Solange sich die Menschen mit Lockdowns und Masken und Abstandhalten und Händewaschen vor dem neuen Virus schützen, kann doch auch so ein alter Grippevirus wirklich nicht leicht an uns heran. Selbst in seinem möglichen neuen Veränderungsupgrad. Und noch dazu, wenn man ins Alter gekommen ist, in dem man definitiv nicht mehr so umtriebig ist.
Sie verlässt also ihre Wohnung für kurz, um sich gegen Grippe impfen zu lassen. Dort rutscht sie aber vom Stuhl und bricht sich – ein leider gerne typisches Verhalten von Oberschenkelhalsknochen im Rentenalter – denselben. Vorerst nichts mit einer raschen Rückkehr in die eigene Wohnung. Ihre einhundertdrei Jahre werden allesamt ins Krankenhaus gebracht und der Hals des Oberschenkels wird operiert und seine Heilung beginnt.
Und nun kehrt die eigentliche Tragik in die Geschichte ein. Weil sie auch ins Leben einkehrte. Im Krankenhaus steckte sich die alte Dame, eine Akademikerin, immer noch rege im einhundertdrei Jahre alten Kopf, mit dem neuen Virus an. Und sie stirbt daran. Und in ihre Wohnung kam anstatt sie selbst die Maklerin. Mit der Kamera.
Wenn man einhundertdrei Jahre alt geworden ist, dann muss man sich natürlich nicht beklagen. Das ist ohnehin um geschätzte 20 Jahre mehr, als der Durchschnitt in Mitteleuropa für die generell länger haltbaren Frauen; möchte man meinen. Aber, was sich so ein Schicksal ausdenken muss, um einen Menschen um die Ecke zu bringen. Friedlich einschlafen im Bett, oder beim Frühstückstoast einen Herzanfall zu bekommen, das war vielleicht zu einfach.
Irgendwie finde ich es besonders grausam, dass gerade die Vermeidung einer Krankheit zu der heftigeren Version von Krankheit geführt hat. Mit all den Aufregungen und Schmerzen dazwischen. Ob sie noch leben würde, wäre sie nicht Grippeimpfen gegangen, das wissen wir natürlich nicht. Vielleicht wäre der Oberschenkelhals dann direkt in der Wohnung gebrochen mit den oben beschriebenen Folgen.
Sterben werden wir alle. Das ist das einzig sichere im Leben. Ich wünsche mir bitte, gesund und rege, mit 91 (oder mehr) friedlich während eines schönen Traumes ins andere Leben hinüberzuschlafen. Bitte.
© Eva Hradil 2021-04-19
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