Die Balance im Tango und im Leben
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Ja, klar. Diese Überschrift greift hoch. Aber vielleicht heißt sie ja deshalb Überschrift. Und was ich damit eigentlich ausdrücken will, ist die immer wiederkehrende Erkenntnis, dass der Tango so funktioniert wie das Leben. Oder das Leben hat sich den Tango als Vorbild genommen, das könnte auch sein.
Ich startete ja in mein neues Suchtleben mit einem kaputten Sprunggelenk. Ein Fußgelenk, in dem ganz viel zerrissen, verschoben, beleidigt worden ist. Der linke Fuß – und somit der Rest vom Körper – waren instabil geworden. Verschlimmert durch die sogenannte Schonhaltung.
Ich tat mir am Anfang echt schwer, die Balance zu halten. Man steht beim Tango, mit wenigen Ausnahmen, nur auf einem Bein, das andere hat zwar Bodenhaftung und trägt sein eigenes Gewicht, aber das Gewicht des Körpers trägt und somit für seine Balance zuständig ist: das Standbein. Und nun ergibt sich aus der Tätigkeit des Gehens und somit auch des Tanzens, dass ich dafür auch das ehemals kaputte und immer noch nachtragende linke Bein hernehmen musste. Einzig darauf zu stehen und das in Heels und nur am Vorfuß und dann damit so zu drehen, als ob man eine Zigarette am Fußboden ausdrücken wollte, war anfangs für mich eine unlösbare Aufgabe.
Wie habe ich mich durch die Übungen geschummelt, die man alleine machen musste! Weil da tät auffallen, tät man umfallen. Sobald man aber so ein Übungsgerät in den Armen hatte - oder er mich - dann waren diese kleinen Balanceaussetzer für mich selbst viel einfacher zu lösen, weil man ja dann als Tanzpaar gemeinsam vier Beine hat und die Sache stabiler bleibt, selbst wenn eines davon schwächelt.
Aber dann muss der Partner die Sache austragen. Und über die Zeit wird das zur Zumutung. Und damals fiel mir eben eine der vielen Analogien zum richtigen Leben auf. Und den Beziehungen ebendort. Wenn einer einmal strauchelt, ist der andere gerne da, um zur Seite zu stehen. Ist es aber immer der Gleiche, der in einer Beziehung aus der Balance kommt (und das bei jeder Kleinigkeit, weil etwas kaputt ist), und immer der Andere, der stützen muss, dann kommt die ganze Beziehung aus dem Gleichgewicht.
Über die Jahre und genau mit Hilfe des Tangos haben sich viele kleine Muskeln an den Füßen weitergebildet (zweiter Bildungsweg), die nun die Verantwortung für die Balance übernommen haben. Und es hat sich zusätzlich ein anderes Gefühl von Stand entwickelt, eines, das von der Körpermitte kommt. Und eines, das einen mit dem Boden verbindet. Und eines, das aus der Verbundenheit mit dem Partner sich selbst ergibt, eine tragende Kraft des vierbeinigen Wesens, welches aber nicht mehr „sich anhaltend“ ist, sondern sich verbinden, sich kurzschließen wie elektronische Kabel, die auch kein Gewicht tragen, sondern Informationen austauschen, Programmierungen aufeinander abstimmen und ein ständiges gemeinsames Feinjustieren von Hard- und Software ermöglichen.
Im Leben spüre ich die Folgen der drei Bänderrisse noch. Im Tango selten.
© Eva Hradil 2021-10-13
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