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Die Sekunden-Geschichte

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Die Sekunden-Geschichte | story.one

Die Grundlage der Geschichte, die ich hier erzähle, hat ungefähr eine Sekunde gedauert. Plus, minus. Und gleichzeitig ist das nur mein Blick darauf, ein Sekundenblick. Auf etwas viel Andauerndes.

Es ist schon einige Wochen her, als ich an einem Sonntag, später Abend, auf dem Weg von Wien nach Niederösterreich unterwegs war. Wenig Verkehr, weil wirklich spät. Die Menschen sitzen bereits seit Stunden vor ihrem Fernseher oder liegen sogar schon im Bett. Oder beides. Noch befinden sich mein Auto und ich in Wien, ich bin guter Dinge, habe Musik und Bewegung in meinem Körpergedächtnis eingeschrieben, Begegnung und Wohlbefinden, weil ich vom Tanzen komme. Angereichert. Müde. Zufrieden. Fokussiert, mich mit der Restenergie sicher an mein Ziel zu bringen.

Da bemerke ich, und dieser Blick ist eben nur ein Augenblick lang, weil ich ja im Auto sitze und mich auf die Straße konzentriere, zwischen zwei Autos, die am Straßenrand in einem größeren Abstand geparkt sind, zwei Menschen sitzen. Auf der Gehsteigkante. Eine Frau und ein Mann. Der Mann hält seinen rechten Arm um die Schultern der Frau und beugt sich zu ihr. Seinen Gesichtsausdruck sehe ich nicht in der Sekunde, er ist ihr zugewandt. Ihren sehe ich. Oder eigentlich auch nicht wirklich, weil sie vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen. Darin und in dem Gesamtbild ist die Geschichte eingeschrieben. Sie weint hemmungslos und fassungslos. Sie ist am Boden zerstört. Sein Körper drückt Hilflosigkeit aus, Betroffenheit. Oder ist das nur meine Interpretation? Kann man das tatsächlich sehen?

Was ich bisher nicht dazugesagt habe, ist der Hintergrund dieser Szene. Die beiden sitzen auf der Gehsteigkante vor einer Tierambulanz.

Mehr weiss ich selbst nicht. Ich bin schon weiter, das Auto hat mich an dieser Geschichte vorbeigezogen. Beziehungsweise die Geschichte, die aus einer sehr kurzen Beobachtung zweier Menschen sich in mir selbst schreibt. War es ein Hund? Eine Katze? Ein anderes liebgewonnenes Haustier? Die beiden trauern so, dass das fast nur die Möglichkeit zulässt, dass sie gerade Abschied nehmen haben müssen. Mir reichten eine Sekunde Beobachtung dieser Trauer, bzw. die Interpretation der Situation vor der Tierambulanz und die Erinnerung an eigene Abschiede von Haustieren, um mir schon an der nächsten Kreuzung selbst Tränen in die Augen zu drücken. Diese Fassungslosigkeit über die Endlichkeit von pelzigen Mitbewohnern.

Wo Hundeleinen zurückbleiben oder Katzenfutter und -streu und -haare. An versteckten Orten kann man auch noch Wochen nach dem Ableben der Verursacherin ihre roten Haare vorfinden, bzw. wegsaugen. Man traut sich am Handy kaum Fotos von etwas zu suchen, da dazwischen jene sind, die einem traurig machen können. Wo sie noch zufrieden ins Handy schnurrt. Einem mit nur halbgeöffneten Augen anlächelt.

Ganz viele Bilder macht so ein Augenblick der Beobachtung auf. Eigene Bilder, eigene Erinnerungen, eigene Gefühle. Eine Sekunde reicht dafür aus.

© Eva Hradil 2022-12-12

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