Eine Kunst-Angst-Nehmerin
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Ich kenne eine der besten Kunst-Angst-Nehmerinnen. Diese Einrichtung ist in Krems in Niederösterreich. Tatsächlich gibt es ähnliche auch anderswo. Es ist eine Artothek. Gewissermaßen eine Bibliothek für Kunstwerke, zumeist Bilder.
Man stelle sich einen großen Raum vor, der viele raumhohe Schiebewände hat, die, wenn sie alle „eingeparkt“ sind, einen Block ergeben. Aus diesem Block kann man einzelne Schiebewände hervorziehen und sieht dann – beidseitig gehängt – die darauf montierten Bilder.
Malerei auf Leinwand, Zeichnungen auf Papier, Druckgrafiken auf Papier. Collagen, Mischtechniken. Kleine Arbeiten, sehr große Leinwände. Alles neutral hängefertig bereitgestellt.
Man zieht Schiebewand für Schiebewand auf, schaut. Schaut. Schaut. Schiebt sie wieder hinein. Zieht die nächste auf. Schaut, schaut und schaut. Und irgendwann, – das ist fast garantiert so – schaut man länger. Bleibt hängen. Kann nicht mehr so leicht wieder die Schiebewand in den Block zurückversenken. Weil man fündig geworden ist. Ein Bild stoppt diesen Vorgang gewissermaßen. Und dieses Bild kann man sich dann für sechs Monate ausborgen. Und, wenn die Liebe groß ist, diese Zeit auf ein Jahr verlängern. Dann jedenfalls muss man das Bild retournieren. Man kann es nicht kaufen. Alle diese Bilder sind im Besitz des Landes Niederösterreich und können eben nur entliehen werden. Zu einem Preis, der in etwa dem durchschnittlichen Versicherungswert entspricht.
„Es ist spannend zu beobachten“, hatte mir mal die frühere Direktorin der Artothek erzählt, „wie Menschen mutiger werden.“ Beim ersten Mal wählen sie Bilder, die ihrem bisherigen Geschmack entsprechen. Etwas, das konform geht, sich einfügt, sich vielleicht sogar unterordnet. Bei weiteren Malen kann sich die Auswahl verändern. Vom Landschaftsbild zur abstrakten Arbeit gewissermaßen. Oder auch umgekehrt. Je nachdem, wo man gestartet ist.
Weil man ja nicht kauft, sondern nur leiht, greifen die Menschen auch zu Bildern, die sie sich nie zu erwerben getraut hätten. Man entscheidet sich hier nicht „fürs Leben“, wie das oft bei Kunst der Fall ist, sondern für ein halbes Jahr. Wäre einmal eine Arbeit darunter, die man gar nicht aushielte, wenn sie im eigenen Wohnbereich hängt, dann bringt man sie einfach früher zurück.
Eine Freundin von mir hat nun einen Nagel im Wohnzimmer, der für die Artothek reserviert ist. Ein- bis zweimal im Jahr fährt sie nach Krems, bringt das eine Bild zurück und wählt ein neues. Ihr vertrautes Wohnzimmer erfährt dann jedes Mal eine Vitaminzufuhr. All das Vertraute, das einerseits gleich bleibt, verändert sich dennoch, weil ein einziger Baustein darin verändert wird. Wie sehr das gelingt, macht auch den Wert und die Sinnhaftigkeit von leibhaftigen Bildern anschaulich. Kein Kunstdruckkalender schafft diese Präsenz.
Und zu Hause hat man auch keine „Angst“ vor Kunst. Sie kommt einem näher.
© Eva Hradil 2022-10-05
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