Suchtmenschen verlieren Freunde
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Wahrscheinlich geht das auch Internetsüchtigen so, und Spielsüchtigen, Alkoholsüchtigen, Heroinsüchtigen sowieso, dass man Freunde aus dem normalen Leben verliert? Oder, dass es beinahe unmöglich ist, jenen diese Sucht zu verheimlichen?
Am Samstag ist eine Feier mit alten Freunden? Wunderbar! Man freut sich sehr, alle wieder einmal zu sehen! Aber muss das gerade an dem Samstag sein, wo doch die Milonga XY stattfindet, zu der man so gerne geht und das Gefühl hat, dort nicht fehlen zu wollen?
Was, Du bist schon müde? Verwundert fragt der Gastgeber seinen Gast, weil er um zehn oder halb elf das Fest schon wieder verlassen will. Dass der Gast einen Schuhsack mit sich trägt, mit den Tangoschuhen, das erkennen nur Insider.
Tango-Argentino-Menschen sind zuallermeist suchtkrank. Dessen bin ich mir förmlich sicher. Man trägt einfach zu viele der Anzeichen einer Suchtkrankheit in sich. Und wenn man schon unbedingt diese Neigung haben muss, dann ist das Ausleben durch Tango tanzen ja eine durchaus gesündere als Internet, Casino, Alkohol oder Heroin.
Am Anfang finden es Freunde noch exotisch, wenn man erzählt vom Tango tanzen. Echt? Du machst das? Erstaunt lauschen sie den Geschichten. Je nach Freundestyp verblasst das Interesse früher oder später, weil sich keine Heilung oder Änderung anbahnt. Ich versuche ehrlich, meine Freunde aus dem normalen Leben nicht mehr zuzulabern mit meiner Tangosucht. Sobald mich jedoch jemand von sich aus fragt, ist die Sache verloren, dann öffnen sich die Schleusen und die Tango-Worte-Flut-und-Erzähl-Leidenschaft drücken meine Zuhörer an Wände und durch offene Türen.
Meiner Kollegin Heike gegenüber versuche ich das T-Wort nicht mehr zu erwähnen. Sie verdreht dann nämlich die Augen in einem ungesunden Ausmaß. Und sie hat ja auch Recht. Noch dazu, weil wir einen Beruf ausüben, der per se nach Passion verlangt. Und für den ich tatsächlich und wahrhaftig sehr brenne und unendlich dankbar bin. Aber dem ich auch immer wieder helfen muss, indem ich mir etwas ausdenke, das den Tango dann doch auch von Zeit zu Zeit mit der Arbeit verbindet. So habe ich einmal ein Bild gemalt, 2 x 3 m, auf welchem ich lebensgroß Menschen aus meinem Tangosuchtleben miteinander und ineinander umrissartig zu einem gemeinsamen „Wiener Reigen/Tango-Organ“ verarbeitet habe. (Wenn alles klappt, ist es auch als Cover dieses Büchleins genutzt.) Eine Serie von Bildern habe ich gemalt, die Menschen in Umarmungen zeigen. Und den Neuerwerb von Tangoschuhen könnte ich mittlerweile von der Steuer absetzen, so oft, wie ich sie dann jeweils als Motiv verwende.
Suchtmenschen müssen sich austricksen. Und darin bin ich gut. Darum wird es wohl auch in Zukunft immer wieder Arbeiten geben, die meine Passion zum Tango in meinen Beruf als bildende Künstlerin hineinverweben. Weil beides braucht Intensität und Aufmerksamkeit. Und ein Hineindenken. Und so befruchten sich diese Hineindenkaktionen immerhin gegenseitig.
© Eva Hradil 2021-11-11
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