Über die Vorfreude
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Noch sitze ich am Computer und arbeite. Aber ich lächle schon. Oder jedenfalls eine Vorstufe davon. Es lächelt in mir. Weil wir – die stets hungrige Dreifaltigkeit von Körper, Geist und Seele – wissen, dass wir uns bald aufmachen, um zum Tango zu gehen. Es ist wie einen Menschen zu besuchen. Man trifft dort natürlich auch Menschen, viele oder wenige, je nach Milonga. Aber man trifft irgendwie auch oder eigentlich den Tango. Hat eine Verabredung mit ihm, fast noch mehr als mit einzelnen Menschen.
Noch sitze ich am Computer und arbeite. Die Vorfreude arbeitet jedoch auch. Sie dehnt die Stunden, die ich beim Tango sein werde, nach vorne hin aus. Mit geringerer Intensität, aber mit der schönen Kribbeligkeit, die ein Kind vor ersehnten Ereignissen hat. Vorfreude eben.
Und die Kribbeligkeit will ja dann abgelegt sein, sobald man die Milonga betritt. Dort wird sie ersetzt. Durch Anwesenheit. Wesenheit.
Diese konkrete Vorfreude auf den Tango in Worte zu fassen ist schwierig. Oder jedenfalls, es so zu gestalten, dass es stimmig klingt, nachvollziehbar – und dennoch unangreifbar. Unesoterisch. Gibt es ein anderes Wort für „unesoterisch“? Diese Vorfreude ist greifbar.
Sie ist jedenfalls eine sehr gute Freude. Weil noch unbefleckt und voller Möglichkeiten. Vorfreude basiert auf Phantasie und auf Erfahrung. Wir nehmen die besten der dort verbrachten Stunden aus der Erinnerung und basteln daraus diese Vorfreude, gewürzt mit Phantasie, weil sich die Vorfreude ja dennoch auf die Zukunft bezieht.
Ich kann sie auch unvermittelt verspüren. Noch ohne konkreten Anlass. So zum Beispiel beim Joggen in einem Wiener Park. Da erwischte sie mich vor kurzem eiskalt, weil ich mich wunderte, dass es Menschen gibt, die tatsächlich gegen die Tanzrichtung joggen. So verinnerlicht ist meine Bereitschaft für das Tanzen, dass ich nicht anders kann, als einen Rundparkour in immer der gleichen Richtung zu laufen. (Ist das schon krankhaft?)
Noch sitze ich am Computer und arbeite. Aber die Zeitspanne ist nur mehr klein, um mich auf den Weg zu machen. Um IHN zu treffen. Den Tango!
Ich treffe ihn in Umarmungen mit Männern – kleinen und großen - solchen, mit denen ich auch plaudere, und anderen, mit welchen ich nur tanze. Ich treffe den Tango auch in Umarmungen mit Frauen, weil auch das – dem Himmel sei Dank – mittlerweile möglich ist. Und ich treffe ihn im Zuschauen, Zuhören und Teil des Ganzen sein. Ich habe heute ein Date mit dem Tango. Und ich hoffe und wünsche mir, dass er das gleiche Date auch mit anderen hat. Mit Menschen, die jetzt auch gerade Vorfreude erleben und sich bald auf den Weg machen. Wir brauchen einander, um den Tango zu daten.
Jetzt ist der Punkt erreicht, wo die Vorfreude zur Realisierung wird. Wo ich meine Tanzschuhe nehme und mich auf den Weg mache. Wo aus der Vorfreude Leben wird. Realität. Und im besten Falle wunderbare Stunden, die zum Mittelpunkt einer Woche werden können, ungefragt. Und zum Nährboden von Vorfreude.
© Eva Hradil 2021-10-06
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