Die Vergessene
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08:20
Ruhe.
08:40
Ruhe. Ich schwanke Richtung Dusche. Aufpassen, nicht fallen! Ah, das kühle Nass weckt ein ganz klein wenig zaghafte „noch vorhandene“ Lebenszeichen. Dusche geschafft. Abtrocknen: Schwerstarbeit. Die Lunge rasselt. Mein Kopf: ein Highspeed - Karussell. Zur Sicherheit besser mal auf’n Klodeckel setzen. Gut. Unterstützung. Anlehnen an der Wand. Ganz langsam machen.
09:10
Ruhe. Ist die Klingel defekt? Zur Sicherheit strecke ich mal den Kopf aus meiner Zimmertür. Natürlich maskiert. Da ist: NICHTS. Ich habe HUNGER!
09:22
Hunger geht bei mir gar nicht. Ich rufe an. Ein Anrufbeantworter. Mit „Tag am Meer“. Ich spreche drauf: „ Hallo, hier die Vergessene aus Zimmer 4. Muss ich heute mein Zimmer wechseln? Und bitte - kann ich bitte, bitte ein Frühstück bekommen? Vielen lieben Dank.“
Ruhe. Nichts.
10:10
Bin gereizt. Wie eine Löwin im zu engen Käfig. Tigere im angeblich 14qm großen Zimmer auf und ab. Im Kreis geht nicht. Hab Hunger. Das macht mich ungeduldig. Angriffslustig. Ich öffne die Zimmertür. Auf’s Sicherste maskiert. Höre sofort ein böses Zischen. Klingt wie Peitschen-Hiebe. Und die klare Aufforderung: „Sofort zurück ins Zimmer!!! Sie sind doch Nr. 4.“ Nee, das bin ich nicht. Hab‘ scheinbar auch schon meinen Namen verloren. Neben meiner Kraft. Kann nur noch schwach, mit kratziger Stimme sagen: „ICH HABE HUNGER !“
10:25
Ein schrilles Klingeln zerreißt die Stille in meinem Käfig. Ich zucke zusammen. Maske auf. Tür auf. Mein Frühstück steht davor. Auf‘m Boden. Behände will ich mich bücken. Blitze in Kopf und Körper stoppen dieser Vorhaben abrupt. Muss mich am Türrahmen fest klammern. Atem holen. Um mich dann ganz vorsichtig dem Boden zu nähern. Geschafft. Zitternd balanciere ich das wertvolle Frühstück zum kleinen Tisch. Der eigentlich eine Konsole ist. Sinke schwer atmend auf den Kunstlederstuhl. Endlich Frühstück!
11:45
Ruhe. Weiterhin. Das Frühstück hat gut getan. Höre die Zimmerfeen in den anderen Räumen. Nicht bei mir. Keine Nachricht, ob ich im Zimmer bleiben kann. Mache mich an den Kraftakt „Aufräumen“. Geschirr auf‘s Tablett. Zettel schreiben. „Bitte: Toilettenpapier/Tissues/zwei große Flaschen Wasser. Danke #4“. Maske auf. Tablett vor die Tür. Hoffentlich sehen die den Zettel. Mülleimer vor die Tür.
12:33
Die Klingel. Reißt mich aus meinen trüben Gedanken. Die so sind wie das Wetter da draußen. Grau, nass, kühl. Maske auf. Marathon zu Tür. Das schmutzige Geschirr ist verschwunden. 2 Flaschen Wasser, 2 Rollen Klopapier und eine Tücherbox stehen da. Ein Glas? Wofür braucht der Mensch ein Glas, wenn er sogar zwei Flasche hat!?
13:16
Das Telefon. Eine liebe Freundin ruft an. Krächzend und hustend erzähl ich ihr. Sie regt sich auf. Ich soll mich wehren. Sie hat Recht. Und ich keine Kraft. Das quatschen tut gut. Auch das Lachen. Auch wenn‘s weh tut. Dann: totale Erschöpfung. Die wütende Energie, eben noch da, ist verpufft. Wie der wenige Sauerstoff in meiner Lunge. Lass mich auf‘s Bett fallen…
© FrauvomMain 2022-07-21
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