Ausgebrannt
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Heute ist mein Kartenhaus in sich zusammengestürzt. Ich sitze in unserem Wohnzimmer und habe nicht die Kraft, die Wohnung zu verlassen. Beim Gedanken, ins Büro zu fahren, übermannt mich tiefe Verzweiflung. Ich habe nicht die Energie für einen einzigen Termin. „Du bist nicht mehr der Mann, den ich geheiratet habe“, hat meine Frau vor einigen Tagen gesagt. Sie hat recht. Wie konnte es bloß so weit kommen?
In den letzten Monaten habe ich alle roten Ampeln überfahren. Ich habe sie einfach nicht wahrgenommen. Angetrieben von anfänglichen Erfolgen meines Unternehmens, habe ich mir ehrgeizige Wachstumsziele gesetzt. Doch dann kam eine Reihe von Rückschlägen. Mit jedem Rückschlag habe ich mich tiefer verbissen, noch mehr Kraft investiert. Ich habe nur noch gearbeitet, rund um die Uhr. In der Früh vor dem Aufstehen, am Abend im Bett. Aus Zeitmangel habe ich alle Therapien und sportlichen Aktivitäten gestrichen.
Habe ich mich so unglaublich verschätzt? Mein gesamtes Umfeld hat die Veränderung mitbekommen. Nur ich nicht. „Das ist doch nur eine Phase. Das muss halt jetzt so sein, geht wieder vorbei.“ Ich habe seit einem Jahr keine Freunde mehr gesehen, keine privaten Telefonate geführt. Auch wenn ich Zeit mit den Kindern verbringe, bin ich gedanklich ganz woanders. Nichts davon hatte ich realisiert.
Ich fühle mich, als wäre ich gegen eine unsichtbare Glaswand gelaufen. Ich bin komplett am Ende, kraftlos, verzweifelt und unglaublich leer. Nach meinem Unfall habe ich psychologische Unterstützung verweigert. Aber heute habe ich das Gefühl, ich brauche dringend professionelle Hilfe. Ich rufe die Nummer an, die mir mein Kollege vor ein paar Tagen gegeben hat.
Sechs Monate später, in Kroatien. Meine Söhne schwimmen mit mir um die Wette. Sie gewinnen mit respektablem Abstand. Außer Atem, liege ich am Rücken im Wasser und schaue in den tiefblauen Himmel. Wunderschön. Morgen geht es zurück nach Wien, ich würde gerne länger bleiben.
Hinter mir liegt ein halbes Jahr Auszeit. Ein halbes Jahr voller Therapien. Ein halbes Jahr, in dem ich ganz langsam, Schritt für Schritt, mein Leben wieder in die Hand genommen habe. Rückblickend kann ich noch immer nicht verstehen, wie es so weit kommen konnte. Ich habe ein komplettes Jahr verloren. Ich bin durch verzweifelte Tiefen gegangen. Ich war kaum für meine Familie da, habe sie viel zu wenig wahrgenommen. Ich verachte mich dafür.
Zum Glück gibt es im Leben immer eine zweite Chance. Ich kann wieder nach vorne schauen. Ich freue mich wieder auf die Zukunft. Ich freue mich sogar wieder auf die Arbeit. Aber eines weiß ich ganz gewiss: Das passiert mir nie wieder. Nie wieder werde ich zulassen, dass ich mich selbst in den Abgrund stoße.
„Los, Papa! Noch ein Wettschwimmen!“, rufen meine Buben. „Ich bekomme noch eine Chance?“, frage ich sie. Los geht’s!
Listen to: Extreme Ways. Moby
© Gregor Demblin 2020-09-14
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