Herzengel
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Vor kurzem traf ich einen Jungen, etwa 12 Jahre alt. Er stand vorm Schaufenster einer Trafik. Ich kannte ihn vom Sehen, deshalb habe ich ihn angesprochen: „Hallo, Fritz. Suchst du ein Geschenk für deinen Vater?“
„Nein“. Seine Antwort war schroff gewesen. Ich hab mich nicht beirren lassen und nachgebohrt: „Du wirst doch nicht zu rauchen anfangen?“
„Nein“, sagte er. "Ich suche etwas für meinen Opa. Aber das kann ich vergessen. Wie so vieles jetzt. Die Schule ist geschlossen, meine Freunde sehe ich auch nicht und überhaupt ist das ganze Leben ein Scheiß! Und Opa braucht eigentlich eh nichts." Er wollte wieder gehen.
Ich habe gerufen: „Fritz, warte!“ Da hat er sich zögernd umgedreht.
Ich hätte ihm am liebsten umarmt, aber ich hielt den Abstand – zu unser beider Sicherheit - ein. „Was ist passiert, dass du so negativ denkst, Fritz?“
Erst wollte er nicht reden, doch dann sprudelte es aus ihm heraus. „Mir steht alles bis obenhin. Alle hocken nur zu Hause herum und kritisieren mich. Nichts kann ich recht machen. Seit Opa im Pflegeheim ist, habe ich niemanden mehr, der mir zuhört und mit mir redet. Er hat mich immer für voll genommen und mich aufgebaut, wenn ich nicht gut drauf war.“
Der Bub hat mir leidgetan. Während ich noch überlegt habe, wie ich ihm helfen könnte, hatte er mich gefragt: „Sie schreiben doch über Engel, nicht wahr?“
Ich war neugierig, woher er das wisse und er sagte, dass seine Mama einmal bei einer Lesung von mir war und ein Buch zu Hause hätte.
„Haben Sie schon einmal einen Engel gesehen?" wollte er von mir wissen.Ich versuchte ihm zu erklären, dass man ganz selten die Engel sehen, aber sie fühlen könne, wenn man das wirklich möchte.
„ Unsere Schutzengel sind immer um uns herum," erklärte ich ihm, der mir jetzt aufmerksam zuhörte. "Ich gebe dir auch einen guten Tipp. Wenn du einmal nicht weiter weißt oder traurig bist, wende dich an den Engel in deinem Herzen. Rede mit ihm und glaube mir, du wirst ihn spüren können. Ich mache das auch und erzähle meinem Herzengel immer von meinen Sorgen. Dann bitte ich ihn, mir auf seine Weise zu helfen. Vergiss aber nicht, dich danach zu bedanken.“
„Und das funktioniert?“, wollte er wissen.
„Immer“, habe ich ihm geantwortet. „Anschließend passieren schöne Dinge, die ich so gar nicht erwarte, aber alles fängt an, sich zum Guten zu wenden.
Der Junge hatte noch etliche Fragen gehabt, die ich nach bestem Wissen beantwortete. Zum Abschied fragte er: „Hat wirklich jeder so einen Engel im Herzen?“
„Ja!“
„Opa und ich auch?“
Wieder hatte ich zustimmend genickt.
„Wissen Sie, mein Opa ist dement geworden. Er versteht nicht mehr, was ich ihm sage. Aber von Herz zu Herz könnten wir uns doch auf diese Art unterhalten? Und er würde alles verstehen?"
„Ja Fritz“.
Darüber hatte er sich diebisch gefreut und gemeint: "Wenn ich jetzt meinen Opa besuche, werden unsere Engel sich viel zu erzählen haben. Danke.“
Weg war er.
Ich rief: „Frohe Weihnachten“, aber das hat er schon nicht mehr gehört..
© Heidrun Siebenhofer 2020-12-02
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