Von wegen Abstand halten…
- 86
Sonntagmorgen – Frühstückszeit! Wer kennt sie nicht, diesen Moment des absoluten Genusses. Frischer Kaffee, selbstgebackenes Brot mit Kruste, Zeitung mit Beilage. Ein Tag, wo man die Seele baumeln lässt.
Normalerweise!
Dieser Sonntag schien so zu werden, wie immer. Doch das Wohlgefühl hielt nur solange an, bis ich in die herrliche Kruste meines Frühstückbrotes biss. Im selben Moment spürte ich, dass die Füllung eines Zahns sich aus ihrer Verankerung gelöst und einen gewaltigen Krater geschaffen hatte.
Keine Spur mehr von Gemütlichkeit und Genuss. Ich musste den ganzen Tag beim Essen darauf Rücksicht nehmen, was meine Laune nicht gerade hob. Montag früh sofort einen Termin gemacht und in die Klinik gefahren. Das Wetter passte hervorragend dazu. Der Nebel hatte sich übers Land gelegt, die Straße glänzte gefährlich und es war kalt. In mir und außen.
Bei der Anmeldung war zum Glück nur eine Person vor mir. Kurz nach mir betrat ein Mann den Raum und stellte sich direkt neben mich. Ich wich zur Seite aus. Es ist schon in Pandemiefreien Zeiten nicht angenehm, wenn ein Fremder einem so nahe rückt. Doch heutzutage ist es sogar gefährlich.
Der Herr rückte einfach nach. Wieder machte ich demonstrativ einen Schritt zur Seite. Er war ein massiv gebauter Sechziger mit stark beschlagener Brille, Schirmkappe und geblümten Mundschutz und wollte oder konnte meinen deutlichen Hinweis auf Abstand nicht verstehen.
Als ich drankam, sagte ich mein Sprüchlein auf und die weiß gekleidete Dame suchte meine Unterlagen heraus. Da spürte ich in meinem Nacken den Hauch des Unheils. Ich wusste nicht, fand dieser Herr mich so faszinierend, dass er Schnappatmung bekam oder war er bereits Corona positiv und atmete deshalb wie ein Schwerlastzug, der einen Alpenpass bezwingt. Mir war wirklich nicht zum Lachen zumute, zumal ich keine Ausweichmöglichkeit hatte. Er pickte förmlich an meinem Rücken und ich spürte seinen heißen Atem. Ich stöhnte und setzte zu einer Zurechtweisung an. Da schaute die Dame hinter der Glasscheibe hoch. Sie erkannte meine Lage, zeigte mit dem Finger auf den Herrn hinter mir und sagte scharf: „Mann, halten Sie doch Abstand, um Gotteswillen.“ Ich drehte mich nicht um. Hörte jedoch ein leises: „Entschuldigung.“
Dann wurde sein Name über Lautsprecher aufgerufen, eine Schwester öffnete einladend die Tür zum Operationssaal und sagte: „Herr … Sie können Platz nehmen. Der Herr Primar wird Sie selber operieren.“
Ich hörte hinter mir einen abgrundtiefen Seufzer, drehte mich um und sah wie der Mann mit hängenden Schultern auf die Ordination zuging. Da verstand ich. Der Mann war kein Spanner, er hatte einfach nur Angst. Vermutlich eine Sch… schreckliche Angst!
© Heidrun Siebenhofer 2020-11-24
Kommentare
Jede*r Autor*in freut sich über Feedback! Registriere dich kostenlos,
um einen Kommentar zu hinterlassen.