Wer austeilt, muss auch einstecken können
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Meine Energetikerin hat ihr Studio in einem neuen Bürogebäude. Nebenan praktiziert eine Psychologin, zwei Türen weiter eine Masseurin. Ich saß auf einem der Besucherstühle im Vorraum und wartete darauf, dass der Klient vor mir das Studio verlies.
Meinen MN-Schutz nahm ich kurz ab, um aus meiner Wasserflasche zu trinken. In diesem Moment kam ein Mann daher, der einen Termin bei der Psychologin hatte. Ich hatte die Flasche kurz abgesetzt um durchzuatmen, schon erntete ich von ihm einen bitterbösen Blick.
„Heißt es nicht Mund-Nasen-Schutz? Oder ist Ihrer für den Sessel bestimmt, weil er dort liegt?“
Zeitgleich mit seinem verbalen Angriff nahm ich seine Ausdünstung wahr. Er roch wie ein feuchter Schäferhund. Ich zog meine Augenbrauen hoch, deutete auf die Flasche und sagte: „Wie soll ich mit angelegter Maske trinken? Heute wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden?“
Ich erntete einen messerscharfen Blick der besagte: „Mit dir rechne ich auch noch ab.“ Sein spitzer Zeigefinger trommelte an die Tür der Frau Doktor. Bevor er dahinter verschwand, hörte ich noch das deutlich für mich bestimmte: „Blöde Kuh!“
Nach meiner Behandlung bei Barbara – der für mich besten Energetikerin – schließlich „teste“ ich ihre Kompetenz schon seit 20 Jahren – ging ich harmonisiert und ausgeglichen von dannen. Ein Sparmarkt im selben Haus erinnerte mich daran, dass ich noch einige Kleinigkeiten benötige.
Maske auf, dann betrat ich das Geschäft. Wem treffe ich im Eingangsbereich in angeregtem Diskurs mit dem Filialleiter? Den netten Herrn von vorhin. Er wurde gerade auf seinen fehlenden MN-Schutz angesprochen, den er, wie er lautstark betonte, nur bei der Psychologin vergessen hatte. Als er mitbekam, dass ich interessiert das Gespräch mitverfolgte, zog tiefe Röte von seinem Hals aufwärts.
Er schleuderte ertappt dem Filialleiter die freundliche Aufforderung :„Leckt’s mich doch alle am Arsch“entgegen und verließ das Geschäft. Das heißt, er wollte es durch den Eingang wieder verlassen. Er bedachte nicht, dass man bei den meisten Geschäften den Raum durchqueren musste, um zum Ausgang zu gelangen. So auch hier. Seine spitze Nase nahm mit deutlichem Knacken Kontakt mit der geschlossenen Glastür auf.
Der Filialleiter und ich entfernten uns schnellen Schrittes. Nicht ohne einem breiten Lächeln, das hinter dem Mundschutz nicht zu sehen war. Die Augen hätten uns verraten. Aber da schaute niemand hin.
Bei dem aggressiven Zeitgenossen war die zuvor erfolgte psychologische Behandlung wohl erfolglos verlaufen. Denn bei ihm hatte man das Gefühl, dass ganze Bereiche menschlich netter Erkenntnisse an ihm vorbeimarschiert waren, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
So trifft nicht einmal die Redewendung: "Wer austeilt, muss auch einstecken können!“ auf dieses Exemplar zu. Ich würde ihm ein Selbstfindungsseminar mit dem Titel: " Ist da jemand?"empfehlen. Vielleicht meldet sich dann der Rest verlorener Erkenntnis bei ihm.
© Heidrun Siebenhofer 2020-09-27
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