Dachspitz und Geistesblitz
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Ein Gefühl tiefer Dankbarkeit durchströmt mich, wenn ich in meinem Haus mit Garten am Stadtrand von Wien bin. Hinter mir die sonnendurchfluteten Weinhänge des Bisambergs. Im Garten blühen die Tulpen, der Flieder duftet betörend.
Mein Haus ist 112 Jahre jung. Von Zeit zu Zeit gibt es Erneuerungsbedarf, wie du dir wahrscheinlich vorstellen kannst. Besonders meine Dachziegel sind in die Jahre gekommen. Nach jedem Winter kontrolliere ich das Dach.
Diesmal ist ein Dachziegel gebrochen, der ganz weit oben knapp unter dem Dachfirst liegt. Von außen dorthin zu gelangen, wäre ein gefährlicher Balanceakt. Doch ich habe Glück. An dieser Stelle gibt es einen nicht ausgebauten Dachboden. Ich kann also von innen arbeiten und den Ziegel austauschen.
Es ist finster am Dachspitz. Ich löse den alten Ziegel heraus. Durch die kleine Öffnung fällt plötzlich Licht ein und verändert die Atmosphäre des Raumes. Das bringt mich auf eine Idee. Ich habe in meinem Dachziegellager noch einen durchsichtigen Glasziegel. Den baue ich nun ein. Der dunkle Dachspitz verwandelt sich dadurch in ein gemütliches Kammerl, wo unter Tag das Licht hereinscheint.
Einige Wochen später treffe ich eine guten Freund, erzähle ihm ganz begeistert von meinem Geistesblitz. "Du wirst es wahrscheinlich nicht ganz verstehen", sage ich zu ihm, "wie das ist, wenn plötzlich das Licht in das dunkle Gemach scheint".
Er antwortet mit einem breiten Grinsen und nickt wissend. "Weißt du", sagt er zu mir, "als junger Bub bin ich mit meinen Freunden auf einem Heuboden gewesen. Wir haben uns dort gerne versteckt. Direkt über uns war ein durchsichtiger Dachziegel. Die Sonne hat herein geschienen und alles vergoldet."
"Ich weiß also, wovon du redest und wie sich das anfühlt, wenn das Licht deine Seele berührt." Jetzt war ich berührt von so viel Gleichklang und Übereinstimmung.
Foto von Ante Hamersmit / Unsplash
© Karl Ebinger 2020-04-26
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