Tränen nach unten
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Ich war 16. Schon beim nach Hause gehen von der Schule war ich beunruhigt, dass mit meiner Mutter irgendetwas nicht stimmen könnte. Sie war psychisch krank und die schizophrenen Phasen kündigten sich immer schon ein paar Wochen vorher an. Ich fand sie hinter dem Haus. Sie hatte um einen Baum einen Haufen Gegenstände aufgetürmt, leerte gerade eine Flüssigkeit darüber und zündete das ganze Zeug an. Es gab eine riesige Stichflamme. Sie stand beteiligungslos davor und schaute ins Feuer. Ich hatte Angst, dass sie von den Flammen erfasst werden könnte. Ich sprach ganz ruhig zu ihr: "Komm Mama, gehen wir ins Haus." Sie erzählte, dass sie nur Ordnung schaffen wollte und alles, was sie fand, verbrennen musste. Vor der vergessenen Farbdose auf der Bank unterhalb ihres Schlafzimmerfensters, hatte sie panische Angst. Sie glaubte, es sei eine Bombe. Ich habe den Arzt angerufen, der sofort die Einweisung in die Nervenklinik veranlasste. Ich habe heute noch das Bild vor Augen, wie die zwei Rettungsmänner sie unter Geschrei in den Rotkreuzwagen zerrten.
Für uns vier Geschwister war das nicht das erste Mal, dass Mama eingeliefert wurde. Wir hatten schon mehrere Selbstmordversuche miterlebt. Wir wussten, was zu tun war. Im Altersheim anrufen um das Essen zu organisieren, mit der Bank und der Gemeinde sprechen usw. Wir waren alle nicht volljährig und mir ist es bis heute ein Rätsel, dass wir Kinder vom Jugendamt nicht in Heime verteilt wurden.
Die Krankheit meiner Mutter brach aus, da war ich sechs Jahre alt. Bis zum zwölften Lebensjahr war ich Bettnässer. Heute weiß ich, dass ich die Tränen nach unten geweint habe. Mein Vater ließ sich nach sieben Jahren Krankheit von meiner Mutter scheiden. Er war am Ende seiner Kräfte.
Irgendwie haben wir vier Brüder es geschafft. Der Jüngste kam in Pflegefamilien, hatte aber immer Kontakt zu uns. Der Älteste übernahm die väterlichen Aufgaben und wir anderen halfen bei den häuslichen Aufgaben mit. Unser Schicksal hat uns zusammengeschweißt. Wir hatten unsere Überlebensstrategien. Wenn wir z. B. am Samstagabend mal nicht kochen wollten, packten wir alle unsere Instrumente und besuchten die Nachbarn. Dort wurden wir herzlich empfangen und spielten auf. Natürlich gab´s dann immer was zu essen. Kein Wunder, dass wir Sozialarbeiter, Motopädagoge, Religionslehrer und Familienberater wurden.
Meiner Mutter ging es in den letzten Lebensjahren sehr gut. Sie hatte keine Schübe mehr. Und wenn sie gesund war, konnte sie ihre Liebe zu uns leben. Meine Mutter und meinen Vater verband im "Herbst des Lebens" eine schöne Freundschaft. Ich erlebte die Familie, die ich mir als Jugendlicher wünschte.
Meine Mutter starb friedlich, genau heute vor einem Jahr. Sie freute sich schon darauf, endlich wieder mit ihrem geliebten Mann im Himmel vereint zu sein. Ich habe heute, in Maria Kirchental, eine Kerze für die beiden angezündet.
Bild: Auf der Gartenmauer (von links nach rechts): Daniel, Kurt, Reinhard und Andreas
© Kurt Mikula 2019-07-22
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