Der grüne Traktor, Opa und ich
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Damit sich die Erstklässler besser kennenlernen, startete ich gleich zu Schulbeginn das Talenteprojekt: „Zeig, was du kannst!“ „Überlegt euch bitte, was ihr gerne macht, was so alles in euch steckt und wie ihr das euren Mitschülern präsentieren könnt“. Es wurde gegrübelt und Ideen zusammengetragen.
Allen fiel was ein. Nur Christian flüsterte zerknirscht: „Mir fällt nichts ein.“ Christian war ein Schweiger. Seit Schulanfang hatte er noch keinen vollständigen Satz vor der Klasse gesprochen. Wenn man ihn fragte „Wie geht´s dir heute, Christian?“, sagte er nur, „hm“.
Schon in der nächsten Reli-Stunde wurde ein bunter Blumenstrauß an Talenten präsentiert. Laura klimperte auf der Gitarre, Sebastian spielte auf der Ziehharmonika und sang dazu ein Gstanzl. Lea ließ uns von ihrem selbst geschleudertem Honig probieren. In ihrem gelben Imkergewand sah sie aus wie eine Außerirdische.
„Ist dir schon was eingefallen?“, fragte ich Christian. „Hm? Nein, mir fällt einfach nichts ein.“ „Dann müssen wir weitersuchen. Jeder kann irgendwas. Ich schlage vor, du gehst mal mit deinem Freund Julian für fünfzehn Minuten hinaus und ihr macht euch gemeinsam auf die Suche nach deinen Stärken.“
In der folgenden Religionsstunde erschien Kathi im blauen Stallgewand und ließ uns an den verschiedenen Heusorten riechen. Maxi und Sebastian waren am Wochenende mit ihren Kurzskis auf der Loferer Alm und zeigten uns ihr Handyvideo vom Waldwegerlfahren. Das war echt spektakulär. Marvin brachte seine Pokemonkartensammlung mit. Er konnte alle hundertvierzig Namen auswendig. Das war beeindruckend.
„Habt ihr schon was entdeckt?“, erkundigte ich mich bei Christian und Julian. „Nein!“ „Das gibt´s doch nicht! Dann müssen wir weitersuchen. Geht bitte nochmals nach draußen und nehmt diesmal auch noch Markus mit.“
Zehn Minuten später waren die drei wieder da: „Christian hat in den Sommerferien mit seinem Opa einen Traktor renoviert“, berichtete Markus aufgeregt: „Super, Christian erzähl uns die nächste Stunde mehr davon.“
Und das tat er auch. Er zeigte uns einen Film, wie er mit dem Traktor umherfuhr, erzählte wie er mit seinem Opa den alten Steyr 86 im Heustadl entdeckte, den Motor auseinanderbaute, den Rostkübel schmirgelte und wieder grün anstrich und wie der Opa mit ihm im siebzehn PS-Traktor auf den Großglockner tuckerte. Die Schüler durchlöcherten ihn mit Fragen. Nach dreißig Minuten musste ich seinen Redefluss unterbrechen.
Seit diesem Tag fragte ich ihn nicht mehr „Wie geht es dir?“ Ich fragte nur noch: „Wie geht es dem Traktor?“ Und schon sprudelte es aus ihm heraus. Er erzählte von sich, seinem Opa und von seinem Traktor.
Nach den Sommerferien fragte ich ihn wieder: „Wie geht es dem Steyr 86er?“ Und Christian erzählte: „Dem Traktor geht's gut. Aber mein Opa ist in den Ferien gestorben. Mein Papa ist mit mir auf dem Traktor zur Beerdigung gefahren. Und im September fahren mein Papa und ich bei der Traktor-WM auf den Großglockner mit. Für Opa.“
© Kurt Mikula 2019-12-02
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