Eine Nacht in der Bahnhofsmission
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Es läutet an der Tür. Ich öffne und überfallartig stürmt ein bärtiges Ungetüm mittleren Alters an mir vorbei in mein Büro, fällt dort in Richtung Herrgottswinkel auf die Knie und murmelt etwas vor sich hin. Vermutlich sollte es ein Gebet sein. Kaum beendet, sehe ich mich schon mit einer Geldforderung konfrontiert.
Die Situation erinnert mich an einen Banküberfall. Geld oder Leben! „Geld habe ich keines, aber eine Jause kann ich Ihnen anbieten.“ Mehr braucht es nicht. Schon prasselt eine wütende Schimpftirade auf mich herab und der Mann verschwindet so schnell, wie er gekommen ist.
Das war die erste Begegnung zwischen Oskar, einem Obdachlosen, und mir, dem neuen Pfarrsekretär der Pfarre Mariahilf-Bregenz. Oskar besuchte mich fortan regelmäßig.
Die Pfarrhaushälterin machte ihm eine deftige Jause und ich versorgte ihn mit Kleidung der Caritas und Friseurterminen, bei denen ich später die Rechnung beglich. Frisch frisiert und rasiert war Oskar nicht wiederzuerkennen. Ein stattlicher Mann. Irgendwann tauchte er einfach nicht mehr auf.
Das letzte Lebenszeichen, das ich von Oscar erhielt, war einige Monate später eine Weihnachtskarte mit dem Vermerk: „An Kurt Nikolaus! Liebe Grüße, dein Freund Oskar, Bahnhofslagernd Linz.“
Ein Jahr später, ich war mittlerweile Student in Graz, beschloss ich, ein Selbsterfahrungsexperiment zu wagen. Eine Nacht als Obdachloser. Mein Plan war einfach. Ausgestattet mit einem Rucksack voller Bier und „Wuzelzeug“ setzte ich mich zu einem Sandler auf eine Bank in der Fußgängerzone. Alles Weitere würde sich schon ergeben. Verkleiden musste ich mich nicht. Lange Haare, abgetragene Kleidung, das passte gut. Ab jetzt war ich der völlig abgebrannte Kurt aus Bregenz, soeben in Graz angekommen und auf der Suche nach einer Schlafmöglichkeit.
Ich teilte mit meinem „Bankkollegen“ Bier und Tschick und er gab mir dafür den Tipp mit der Bahnhofsmission: „Da kannst du schlafen. Kost nix! Musst aber um 20 Uhr dort sein. Sonst kriegst du keinen Platz mehr.“ Er hatte recht. Eine Männerschlange wartete schon am Anmeldeschalter und ich reihte mich dazu. „Das wären dann 15 Schilling“, sagte ein Mitarbeiter der Notschlafstelle. „Hab nix“, sagte ich. Beim Lügen fühlte ich mich so verdammt schlecht. „Aber das nächste Mal“, kam zurück.
Ich begab mich mit den anderen in den Warteraum und zündete mir eine Tschick an. „He, raus! Hier wird nicht geraucht“, fauchte mich ein Kollege an. Schon war ich als unwissender Neuling enttarnt. Um 21.30 wurde der Schlafsaal geöffnet. Die 8 Eisenstockbetten wurden bezogen und um 22.00 Uhr wurde das Licht abgedreht. Es wurde kein Wort mehr gesprochen. Um 6.00 morgens ging das Licht wieder an und alle mussten raus. Um 6.30 war keiner mehr da.
Ich hätte noch so viele Fragen an dieses Leben als Obdachloser gehabt und wünschte mir, mein Freund Oskar wäre jetzt hier. Er hätte sicher gewusst, wo wir beide jetzt ein Frühstück herbekommen. Vielleicht im nächsten Pfarramt?
© Kurt Mikula 2021-04-19
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