Hurra! Ein Problem!
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"Hurra! Ein Problem!", hörte ich meine Frau öfters in letzter Zeit, laut und lachend rufen, wenn sie nach der Schule nach Hause kam. Das lag am kürzlich besuchten Gewaltpräventionskurs mit dem tollen Motivationstrainer. Der machte im Handumdrehen aus jedem Problem eine willkommene Herausforderung und aus jeder Krise eine wunderbare Chance etwas Neues zu lernen.
Das wiederum erinnerte mich stark an meine Ausbildung "Positive Psychotherapie". Hier wurden Krankheiten umgedeutet. Schlafstörung als Fähigkeit, wachsam zu sein und mit wenig Schlaf auszukommen. Schizophrenie als Fähigkeit, in zwei Welten zu leben oder sich in eine Fantasiewelt zu begeben. Magersucht als Fähigkeit, mit wenig Essen auszukommen und sich mit dem Hunger der Welt zu identifizieren. Oder Depression als Fähigkeit, mit tiefster Emotionalität auf Konflikte zu reagieren. Durch diese Umdeutung soll beim Klienten ein gedanklicher Standortwechsel stattfinden. Im Sinne „Man kann auf seinem Standort stehen, aber man sollte nicht darauf sitzen bleiben.“
Als Kind habe ich durch die psychische Erkrankung meiner Mutter einen depressiven Streifschuss bekommen. Immer wieder gibt es Zeiten, in denen ich antriebslos, erschöpft und müde bin. Dann kann ich nur auf den nächsten Tag hoffen. Bei mir hat die positive Umdeutung der Depression, als Fähigkeit "besonders feine Antennen" zu haben, leider nicht zur Besserung beigetragen. Erst nachdem ich mein dunkles Tal durchwandert habe, kann ich meiner Krise auch was Gutes abgewinnen. Ungefähr so, wie der Arzt, der jedem helfen kann, aber dauernd über seine eigenen Schmerzen jammert.
In meiner zwanzigjährigen Tätigkeit als Partner- und Familienberater durfte ich schon viele Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme begleiten. Ich war respektlos mit den Problemen, aber respektvoll mit den Menschen. Und ich liebte Probleme. Je größer, umso besser.
Die hatten nämlich folgende Wirkung auf mich. Umso größer z. B. ein Beziehungsproblem geschildert wurde, umso kleiner empfand ich meine eigenen Unzulänglichkeiten in meiner Beziehung. Ich wurde bescheidener und dankbarer für meine Partnerschaft. Und je unfassbarer mir die Erziehungsprobleme der Klienten mit ihren Kindern erschienen, umso mehr verblassten meine Zweifel, meine Frau und ich hätten unsere Kinder vielleicht falsch erzogen. Haben wir eigentlich ganz gut hingekriegt.
Dazu ein kurzer Therapeutenwitz: Zwei Knirpse beim Kinder-Psychotherapeuten. Meint das eine Kind zum anderen: „Du, der ist sehr gut – er sucht die Schuld immer bei den Eltern!“
© Kurt Mikula 2019-07-20
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