Ich sag nur: Halleluja
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Glaubensätze sind wie Gitterstäbe. Du bist gefangen und merkst es nicht. Stell dir folgendes Szenario vor: Samstagvormittag im Shopping-Center. Es herrscht reges Treiben. Inmitten der wurligen Menschenmenge steigst du seelenruhig auf einen Stuhl und beginnst lautstark und inbrünstig das Halleluja von Georg Friedrich Händel zu intonieren. Die Menschen drehen sich um, versteinern augenblicklich und starren dich an. Da wird dir heiß! Oder? Ging mir auch so.
So was Verrücktes werde ich nie machen, hab ich gedacht. Doch ich wurde eines Besseren belehrt. Da staunste, was? OK, ich will ehrlich sein: Dabei haben mir zweihundert Verbündete geholfen.
Ich drücke die Reset-Taste mal einen Monat zurück. Mein Bruder ruft mich an: „Hey, Kurt, bei uns ist eine coole Aktion geplant. Die Young-Caritas sucht für einen musikalischen Flashmob noch Sänger. Wir singen das Händel-Halleluja. Bist du dabei?“ „Klar!“, schoss es aus mir heraus. Ich bin zwar nicht mehr so „Young“, aber ich liebe „Hendl“. ;). Ich hatte schon von diesen scheinbar spontanen Menschenansammlungen gehört, die wie aus dem Nichts auftauchen, irgendwelche skurrilen Dinge machen und Augenblicke später wieder im Nichts verschwinden. Zurück bleiben die verdutzten Zuschauer.
Die Händel-Geheimmission wurde präzise vorbereitet. Jeder Eingeweihte erhielt die Chornoten vorab und hatte die Aufgabe, sich seine zugeteilte Stimme, ich wurde für den Tenor auserkoren, im stillen Kämmerlein anzueignen.
Dann kam Tag X. Wir trafen uns kurz vor der Performance am vereinbarten Treffpunkt zur Einsatzbesprechung. Zweihundert aufgeregte Gesangsakrobaten hatten sich für diesen Geheimauftrag eingefunden. Gemeinsam planten wir unser Vorgehen.
Unsere Strategie war einfach und klar: Kleingruppen bilden, sich unauffällig unters Einkaufsvolk mischen, ein bisschen umherschlendern und, ganz wichtig, möglichst unschuldig tun. Das war am schwersten.
Pünktlich um fünfzehn Uhr erfolgte die mit dem Einkaufszentrum vereinbarte Lautsprecherdurchsage: „Der kleine Reinhard möge bitte an der Kassa abgeholt werden“. Das war unser Zeichen. Die Orchestermusik wurde über Lautsprecher eingespielt und die ersten Sänger begannen auf der Rolltreppe leidenschaftlich den Choral anzustimmen. Ich sprang auf einen Stuhl und sang lauthals mit.
Innerhalb weniger Sekunden vibrierte das Shopping-Center unter dem himmlischen Gesang von Händels Messias. Manche Leute blieben irritiert stehen und staunten. Andere lächelten erfreut. Am Schluss gab es nicht enden wollenden Applaus. Was für eine großartige Stimmung. Und schon war der Spuk vorbei.
Hintergrund für dieses musikalische Experiment war ein Videowettbewerb der EU-Kommission zum internationalen Jahr des Ehrenamtes. Womit wieder bewiesen wurde: Engagement ist ansteckend, und kein Ort ist davor sicher.
© Kurt Mikula 2021-05-20
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