Mikroabenteuer Mittsommer
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Bei jedem IKEA-Einkauf muss ich ans Sterben denken. Das liegt an den Papiermaßbändern, die es dort in jeder Abteilung zum Gratis-Abreißen gibt, und an einer Seminarübung. Die geht so: Nimm das 100cm-Maßband und kürze es auf deine statistische Lebenserwartung. Bei mir waren das 81 cm. Ich war großzügig und hab mir selbst noch 12 cm geschenkt. Dann reißt du noch dein Alter vorn vom Papierband ab. Was du jetzt in deinen Händen hältst, ist die Lebenszeit, die dir noch bleibt. Was sagst du dazu? „Ganz schön kurz!“, hab ich gedacht.
Wenn ich meinem Leben schon nicht mehr Jahre geben kann, möchte ich meinen Jahren zumindest mehr Leben geben. Deshalb begann ich sofort, eine Löffelliste zu erstellen. Das ist eine Liste mit Dingen, die ich noch erleben will, bevor ich den Löffel abgebe. Auf dem allerersten Post-it meiner To-do-Liste stand: Übernachten unterm Sternenhimmel. Ohne Zelt natürlich, sonst sieht man ja die Sterne so schlecht. An meine letzte Freiluftübernachtung konnte ich mich kaum noch erinnern. War wahrscheinlich irgendwann in meiner Jugendzeit.
„Sei stärker als deine stärkste Ausrede!“, sagte ich mir und begann, mein Mikroabenteuer in die Tat umzusetzen. Die Sommersonnenwende schien mir der ideale Tag für mein Abenteuer. Und das Große Hundshorn das perfekte Platzerl für den Blick auf das Sternenmeer.
Handyfrei, bepackt mit Rucksack und Aufregung, ging´s direkt von meiner Haustüre los. Ich durchwanderte die wildromantische Strohwollner Schlucht, stieg zur urigen Scheffsnother Alm auf und erreichte nach 3 ½ Stunden das Gipfelkreuz auf 1705 Metern. Der freie Rundumblick auf die Loferer und Leoganger Steinberge, das Steinerne Meer und den Wilden Kaiser, war überwältigend. Es war ein warmer Sommertag. Kein Wölkchen trübte den Himmel. Auf der einen Seite der weiße Mond im blauen Abendhimmel und gegenüber der tiefrot untergehende Feuerball.
Da saß ich einfach, schaute und genoss den Moment. Dazu gabs Schafskäse, Oliven, Tomaten und Schwarzbrot. So schmeckt also das Glück. Mit den letzten Sonnenstrahlen, die hinter dem Wilden Kaiser verschwanden, schwand auch der letzte Tropfen aus meiner Rotweinflasche. Zeit, um zwischen den Latschen ein Platzerl für mich und meinen Schlafsack zu suchen. Ich lag noch lange wach und blickte in den Sternenhimmel. Ich wollte nicht einschlafen, bis die Weinschwere schließlich doch die Oberhand gewann.
Jedes Jahr zur Sommersonnenwende erwacht in mir erneut die Sehnsucht, dem Himmel näher zu sein. Dann mache ich mich auf, um auf irgendeinem Berggipfel, am längsten Tag des Jahres, den Rotwein unterm Sternenzelt zu leeren. Besser geht's nicht. Oder?!
Meine IKEA-Einkäufe sind seltener geworden. Aber wenn doch, dann reiß ich mir immer noch ein Gratis-Papiermaßband ab und schau mir meine verbleibende Lebensspanne an. „Super!“, denk ich mir. So viel Zeit, um noch so viele schöne Dinge zu erleben.
© Kurt Mikula 2021-03-21
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