Mutmuskeltraining
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Ruhig und konzentriert fixierte ich mit einem Auge den Baum, hob mit einem kräftigen Atemzug das Beil soweit es ging über meinen Kopf, um es mit einem kurzen, hörbaren „Huh“ wie einen Pfitschepfeil in die Baumstammmitte sausen zu lassen. Fünf Beilumdrehungen! Das war gut. Die stille Bewunderung meiner ringsum stehenden Freunde war mir gewiss. Nur Albert war besser. Der schaffte sieben Umdrehungen, war aber mit seinen fünfzehn Jahren auch drei Jahre älter als ich.
Wir spielten so lange, bis meine Mutter irgendwann „Essen!“ rief. Jeder in der Nachbarschaft konnte sie hören. Ich wartete immer bis zum dritten „Essen!“, denn ab da wurde es wirklich ernst mit dem Heimgehen.
Die Erwachsenen waren damit beschäftigt, dafür zu sorgen, dass wir zu essen hatten. Wir Kinder waren frei und konnten ungestört unsere Mutproben bestehen. Wer traut sich am weitesten auf den Birnbaum hinaufklettern? Der war beeindruckend hoch. Das war gefährlich. Aber wir hatten das im Griff. Mit meinen Freunden überlegte ich, welche wohl die sicherste Kletterroute zum Baumwipfel wäre. Ab den letzten fünf Verzweigungen überfiel mich - verlässlich wie das Amen im Gebet - die Höhenangst. Ich konnte keinen Schritt mehr weiter. Ich klebte förmlich am Baumstamm. Das Herunterkommen war dann auch nicht mehr so einfach.
Den ganzen Sommer über kletterte ich den Birnbaum ab und tastete mich so, in kleinen Schritten, der Baumkrone entgegen. Wo die Angst ist, da geht’s lang. Der Mut war mir nicht angeboren. Aber mit jedem Versuch, bei dem ich mich meiner Herausforderung stellte, wuchs auch meine Stärke. Und als ich am Ende der Sommerferien über den Baumwipfel hinaus, bis nach Hause sehen konnte, fühlte ich mich frei und überglücklich.
Der Abenteuerhunger ist mir bis heute geblieben. Ich mag sie, diese kleinen, meist unspektakulären Wagnisse, bei denen ich das Gewohnte loslasse und das Neue umarme. Sie machen mein Leben so großartig und spannend. Eine gute Gelegenheit, mich dem neuen Jahr mit einer Herausforderung zu stellen, war der bevorstehende Jahreswechsel. Mit meiner ersten Winterübernachtung draußen im wilden Moor. Die Silversterknallerei ging mir schon lange gehörig auf die Nerven. „Brot statt Böller“ fand ich immer schon besser.
Ich wollte es beschaulich angehen. „Der schwierigste Teil eines Abenteuers ist stets das Anfangen!“ Aber sobald ich es geschafft habe, aus der Türe zu treten, liegt der schwerste Teil schon hinter mir.
Ich suchte mir ein Plätzchen am Moosbach, legte mich mit dem Biwak in den Schutz einer Tanne und kuschelte mich in den Daunenschlafsack ein. Die Temperatur lag bei einem Grad plus und die Sterne malten mir unendlich schöne Bilder in den Himmel. Da lag ich und schaute nach oben. Weit entfernt, um Mitternacht, hörte ich dumpf das Feuerwerk und sah die bunten Farbtupfer im Himmel tanzen. „Happy New Year!“, sagte ich mir. Alles, was dein Blut pulsieren lässt, ist es wahrscheinlich wert, dass du es tust. Dafür bist du nie zu alt!
© Kurt Mikula 2023-01-04
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