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#nachdenklich#mut

Stockblind- und taub

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Stockblind- und taub | story.one

Meine allerliebste Freundin hat Stöcke. Es sind Nordic-Walking-Stöcke, die sie in vielen Lebenssituationen beharrlich begleiten. Sie schreitet damit gerne im Wald, über Wiesen, Stock und Stein, jedoch auch im Alltag der Großstadt. Was in der Natur als gute Tarnung gilt, irritiert oftmals Mitmenschen am Asphalt, im Schulgebäude, Einkaufszentrum oder gar Kindergarten. Man hält sie für motiviert, vorbildlich, und stets mit voll sportlichem Ehrgeiz im Training. Motiviert ist die zweifache Mutter gewiss, ein Vorbild laut ihrem Physiotherapeuten sowieso. Dennoch wäre sie allzu gerne sportlich und erfüllt mit ebensolchem Ehrgeiz.

Unlängst rief mich meine allerliebste Freundin verstört und frustriert an, um mir zu erzählen, dass ein Straßenbahnfahrer 1,5 Meter vor ihr (und den Stöcken) die Tür schloss und aus der Haltestelle fuhr. Er sah sie zwar direkt an und nahm ihre verzweifelte Verblüffung wahr, ignorierte sie dabei aber nicht einmal. Unterdessen hatte meine geliebte Freundin versucht, so schnell wie möglich zu gehen, um die Bim zu erreichen. Der Fahrer hatte wohl ihren Watschelgang als lässig-belustigendes Beckenschupfen interpretiert. Die bereits eingestiegenen Fahrgäste hatten sich hinter Handys und Mundschutz-Masken versteckt.

Niemand sah und hörte ihr Ziel.

Meine allerliebste Freundin hat spinale Muskelatrophie und trägt ihre Krankheit nicht offensiv zur Schau. Sie trägt keine Arm- oder gar Fußbinde mit drei Krücken zum Zeichen des “Schlecht-zu-Fuß-Seins”. Sie ist nicht der Typ, der einsteigenden Fahrgästen hinterherruft: “Haltet mir die Türen auf, ich habe Muskelschwund in den Oberschenkeln und konnte vor 20 Jahren noch laufen! Jetzt halt nicht mehr!”

Sie entspricht nicht dem Bild einer typisch Kranken bzw. einer Gehbehinderten und stößt dadurch oft auf Taubheit im Alltag. So beglückwünscht sie der Neurologe zur milden Krankheitsausprägung und erklärt, dass sie kein Spezialmedikament erhalten wird. Die Beamtin beim Antrag für den Behindertenausweis gibt ihr keine Parkgenehmigung, da sie ja mehr als 100 Meter gehen kann. Und der Straßenbahnfahrer hält seinen Fahrplan ein und beachtet sie nicht.

Nach Abklingen des ersten Ärgers empfindet sie letztendlich sogar am meisten Verständnis für die Fahrer-Entscheidung. Wäre er fachlich kompetent auf dem Gebiet der unzähligen Muskelerkrankungen, würde er wohl freiwillig keine Straßenbahn im Hochsommer lenken.

Es ist wohl in der Natur des Menschen bzw. der Gesellschaft verankert, das zu sehen und zu hören, was der persönlichen Norm am besten entspricht. Existiert oder stolpert man außerhalb dieser, wird man nicht wahrgenommen und überhört in seinen Bedürfnissen.

Verärgerung ist gleichsam legitim, wie auch Dankbarkeit für das, was man erreicht hat und erreichen kann. Auch, wenn es einmal nicht die eine Bim ist.

Meine liebste Freundin ist übrigens gleichzeitig meine geliebte Frau, die voll Mut hiermit endlich gehört werden wollte.

© Martin Buchgraber 2020-08-21

mutmacher

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