Wo warst du?
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„Wo warst du gestern Abend?“ Sie sah vor sich auf den Boden. Diese Frage hatte sie erwartet. Befürchtet. Gefürchtet. Aber warum? Wieso? Sie könnte alles erzählen. Sie hatte nichts zu verbergen. Aber sie wollte nicht reden. Sich nicht rechtfertigen. Alles für sich behalten. Es war IHR Abend. Mittwoch war immer IHR Abend. Immer schon gewesen. Vor der Beziehung mit Martin schon. Sie hatte sich treiben lassen. Oder inspirieren lassen. Hatte Pläne gemacht oder war planlos vor- und fortgegangen. Hatte sich an Gerüchen orientiert. Oder an Gerüchten. Wer war wo gerade? Was war in? Oder auch was out zu sein schien, konnte anziehend sein. Auch auf ihr Outfit war kein Verlass. Mal elegant, mal unbedacht. Meistens spontan gewählt, aber ausgesucht.
„Wo warst du gestern Abend?“ Nochmals stellte Martin die ihr so verhasste Frage. Es ging ihn nichts, aber auch gar nichts an. Wenn sie erzählen wollte, dann erzählte sie. Sie redete ja gerne. Aber nicht auf Befehl. Sie wollte sprechen, wenn ihr danach zumute war und nicht, wenn sie dazu aufgefordert wurde. Sie schloss die Augen und sah die Lichtpunkte von gestern wieder. Strahlen und Kreise und Linien. Roch die vielen Menschen und die feuchten Blätter im Stadtpark. Die Fahne und die Ausdünstungen des Sandlers. Hörte ihre Absätze auf dem Pflaster klacken. Schmeckte den schalen Frizzante. Und die leicht ranzingen Pistazien. Sah sie in die Rillen der Pflastersteine rollen, zertreten werden. Roch den Herbstwind und die fallenden Blätter der Nussbäume an der Neuen Donau. Oder war es die Alte Donau gewesen? Die Salsa-Klänge hatte sie immer weiter hinter sich gelassen. Sich daran erinnert. An was? An was eigentlich? An ein anderes Leben? Das so nie stattgefunden hatte? An ein Leben in Freiheit. Ohne Rechenschaftsablegungsberichte für zertanzte oder auch kuschelig-einsame Abende. Wohin und Wozu? „Ich gehe jetzt“, sagte sie. Ich gehe dorthin zurück, wo ich nie war.
© MaschataDiop 2021-01-24
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