So treu wie der Sommer
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Anita und Juanito wurden am selben Tag desselben Monats desselben Jahres geboren, und obwohl sie dieselbe Mutter hatten und zeitgleich das Licht der Welt erblickten, waren sie weder Geschwister noch gleichaltrig. Sie hatten auch weder blondes noch braunes Haar und waren weder groß noch klein.
Nichtsdestotrotz waren sie real. Anita rannte den Krebsen hinterher und Juanito den frisch geschlüpften Schildkröten auf ihren Weg ins weite, blaue Meer. Wie auch alle anderen Kinder auf Erden spielten und tanzten und drehten sie sich im Kreis, bis der Schwindel sie überkam und umfallen ließ. Sie kletterten die Kokosnusspalmen hoch. Mit ihren Blättern fächelten sie sich, mit ihren Fasern, flochten sie Seile und bauten sich eine Schaukel und den Kokosnüssen, denen tranken sie ihre Milch aus.
Zweifelsohne waren sie ein wenig wunderlich. Die Einheimischen, Anita und Juanito blieben sich über Jahrzehnte, Jahrhunderte — Jahrtausende! — fremd. Ihre Anwesenheit war unmerklich und unhörbar. Sie hinterließen keine Fußabdrücke, keine einzige Spur im Sand. Und sie schwiegen ständig. Es schwiegen nicht nur sie und ihre Stimmen, sondern auch ihre Hände und Füße, ihre Bewegungen, Gästen und Schritte. Kein Zähneknirschen, kein Schmatzen, kein Atem war zu hören. Nicht die kleinsten Laute gaben sie von sich, nicht beim Verzehren der Kokosnüsse und nicht beim Nichtstun.
Und so bemerkte niemand, dass sie zusammen mit dem Sommer fortgingen. Anita und Juanito verließen die Westindischen Inseln, um die chilenischen Anden zu bereisen. Dort begegneten sie den gefrorenen Gewässern, die die eisige Kälte des Winters auf den hohen, spitzen Bergen hinterlassen hatte. Doch ihre Ohren sehnten sich nach dem Rauschen der karibischen Wellen, ihre nackten Füße nach dem Brennen des karibischen Sandes und ihr Durst nach der Milch der Kokosnüsse der Kokosnusspalmen, die sich majestätisch über die weißen, unendlichen karibischen Strände beugten, um den Einheimischen als kleine Schatten-Oasen zu dienen.
Also kehrten sie zurück, nicht um nie wieder fortzugehen, aber um immer wieder zurückzukehren. Denn Anita und Juanito waren so treu wie der Sommer. Sie waren Kinder des Sommers!
Näher betrachtet, schien alles, so treu wie der Sommer zu sein. Die Anden, die waren immer dort, wo sie zu erwarten waren. Auch die Kokosnusspalmen blieben ihrem Platz treu. Und der Sommer, der war so treu wie er selbst. Nur Anitas Krebse und Juanitos Schildkröten waren nicht wieder aufzufinden. Die rannten der Treue davon. Genauso wie Götter, Herrscher und Völker aller Länder und Zeiten es taten. Sie erschienen, um später jahrzehnte-, jahrhunderte- und jahrtausendelang zu verschwinden und nicht zurückzukehren.
© Melanie Flores Bernholz 2021-08-13
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