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#familie#tod#krebs

Das Ende eines Lebens

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Das Ende eines Lebens | story.one

13.11.1985. Es liegt Schnee. In der Nacht vom 12.11. auf den 13.11. hatte es geschneit. 'Einmal möchte ich noch den Schnee sehen, ihn spüren, mich an seiner Kälte erfreuen' - das waren die Worte meiner Mutter, die wusste, dass sie demnächst sterben würde. Ihr Wunsch wurde erfüllt. Zwei Tage zuvor lag ich am Sofa im Wohnzimmer und konnte nicht schlafen. Ich war fertig. Ich war am Ende. Am Ende meiner Kräfte, am Ende dessen, was ich glaubte, ertragen zu können. Ich war nie gläubig (und mit 18 aus der Kirche ausgetreten, was mir mein Vater nie verziehen hat). In dieser Nacht bat ich um die Kraft, die ich benötigte, um das alles zu Ende zu bringen. Und gut zu Ende zu bringen. 'Du bist schuld am Tod deiner Mutter!' - das waren die Worte meines Vaters. Ich sagte nichts. Er hatte recht - ich hatte nichts dazu beigetragen, ihr Leben - koste es, was es wolle - zu retten. Denn sie wollte nicht mehr leben und es gab nichts mehr zu retten. Hätte ich ihre Entscheidung nicht respektieren sollen?

Es ging mit dem Leben meiner Mutter zu Ende. Der Arzt meinte, es würde nicht mehr lange dauern. Es war Mittwoch, der 13.11.1985. Wir hätten unser Geschäft von 8:00 bis 12:00 offen gehabt - an diesem Tag blieb ich aber zu Hause. Mein Onkel war anwesend. Er wollte bei seiner Halbschwester sein. Mein Vater kam gegen 13:00 nach Hause. Ich weiß nicht mehr, was wir an diesem Tag zu Mittag aßen. Aber am Nachmittag gegen 16:00 bereitete ich das Abendessen vor. Mein Onkel kam in die Küche und sagte: 'Es ist soweit'. Ich stürmte in das Zimmer meiner Mutter an ihr Bett. Ich rief: 'Mama!' - und holte sie von weit weit weg zurück. Es war ein Schock. Wo war sie? Ich weiß es jetzt - sie war bereits am Weg. Sie antwortete: 'Alles ist gut. Geh' essen und komm' wieder.' Wir aßen Mangold und Spiegelei und versammelten uns danach rund um das Bett meiner Mutter. Sie atmete tief, aber sehr langsam. Ich hielt ihre Hand. Wir weinten alle - mein Vater, mein Onkel und ich. Sie atmete - und die Pausen zwischen ein- und ausatmen wurden länger. Und länger. Und länger. Und länger. Unser Hund, ein Fox Terrier, sprang von seinem Platz unter dem Schreibtisch auf und hüpfte auf das Bett meiner Mutter, versuchte sie zu stupsen. Es war 17:55. Die nächsten Minuten wurden zu den längsten meines Lebens. Meine Mutter starb friedlich, entspannt, begleitet von uns am 13.11.1985 um 18:00. Die Uhr schlug unüberhörbar im Zimmer. Unser Hund legte sich wieder unter den Schreibtisch. Mein Vater rief: 'Und was ist jetzt mit mir? Ich bin alleine! Sie hat mich verlassen!' Mein Onkel und ich suchten das Gewand, welches sich meine Mutter für ihre Beerdigung ausgesucht hatte. Wir schnitten ihr das Nachthemd vom Leib, wuschen sie und zogen ihr ihr Lieblingskleid an. Wer jemals einen Toten angezogen hat, weiß, wie das ist. Ich werde es nie vergessen. Wir öffneten über Nacht das Fenster.

Am nächsten Tag verabschiedete ich mich vom Leichnam meiner Mutter.

Meine Mutter starb am 13.11.1985 mit 55 Jahren. Todesursache: Lungenversagen durch Lungenkrebs

© Michaela Schmitz 2020-06-28

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