Das Testament
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'Guten Morgen, wie hast Du geschlafen?' fragte ich meine Mutter, bevor ich zur Arbeit in unsere Drogerie in Liesing fuhr. 'Danke, es war ganz in Ordnung. Ich habe nur solche Krämpfe in den Beinen. Kannst Du mir bitte doch das andre Medikament aus der Apotheke mitbringen? Dein Vater ist ja gerade auf Urlaub zur Erholung.' Oh! Da schwang doch einiges an Information mit! Ich nahm das Rezept für das Morphium und fuhr los. Mein Vater konnte die Situation nicht ertragen - er wollte, dass meine Mutter ins Spital ging. Freiwillig zu sterben? Das erinnerte ihn schmerzlich an seine eigene Mutter. Ich brachte das Medikament mit und meine Mutter nahm die erste Dosis. Wir hofften auf Erleichterung bei den unerträglichen Schmerzen in den Beinen. Ich formuliere es mal positiv: wir hatten einiges zu lachen - meine Mutter wusste nicht mehr, welche Tageszeit war, sie konnte nicht mehr alleine aufs Klo gehen und sie landete siegessicher in meinem großen Rosmarinbaum. Das Thema 'Morphium' war damit erledigt. Meine Mutter meinte am nächsten Tag: 'Nie mehr wieder möchte ich völlig benebelt und neben mir Dinge tun, die ich nie tun würde. Ich ertrage JEDEN Schmerz - lasst mich klar von dieser Welt verabschieden.' In den nächsten Tagen würde mein Vater von seinem Erholungsurlaub zurückkommen - meine Mutter wollte ihr Testament unter Zeugen unterschreiben. Die mehr als langjährigen Freunde, Ernst und Gerti, sollten dabei sein. So gab es ein Treffen der anderen Art. Ich kann mich nicht mehr erinnern, welchen Inhalt das Testament hatte oder welche Auswirkungen oder welche rechtlichen Folgen. Aber ich kann mich an die Stimmung erinnern. Wir saßen im Büro meines Vaters. Meine Mutter aufrecht im Bett. Alle weinten, meine Mutter sprach ihren letzten Willen. Ernst schrieb mit. Mein Vater war unfähig, ein Wort zu sprechen. Mir war die Kehle zugeschnürt. Und gleichzeitig war da diese Stärke meiner Mutter. Unfassbar. Sie saß aufrecht, Tränen rannten ihr übers Gesicht - aber sie war vollkommen klar, ohne Schmerz. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Das Leben nahm seinen Lauf. Alle unterzeichneten das Testament. Alle verabschiedeten sich - es war ein endgültiger Abschied, zumindest was meine Mutter betraf. Sie hatten gemeinsam so viel erlebt, so viel geteilt - und nun war das Ende besiegelt. Das hatte etwas Unausweichliches, aber auch etwas Tröstliches. Sie hatten es gemeinsam erlebt und das konnte ihnen niemand nehmen. Die Erinnerung war lebendig - so, wie sie es heute immer noch ist. Mein Vater ging schweigend zu Bett. Ich saß an der Bettkante bei meiner Mutter. Wir schwiegen. Ich sah sie an. Sie lächelte sehr zaghaft, aber doch und fragte besorgt: 'Du willst mir heute nicht wieder diese Coronafrage stellen? Ich sag' dir gleich - heute war es viel für mich. Ich werde sterben und alle anderen weinen. Ich habe diesen Weg bewusst gewählt - warum stimmt das alle so traurig?'
Meine Mutter starb am 13.11.1985 mit 55 Jahren. Todesursache: Lungenversagen durch Lungenkrebs
© Michaela Schmitz 2020-05-07
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