Die von Leid geprägten Jahre davor
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Als ich ca. 10 Jahre alt war, erfuhr meine Mutter, damals 45 Jahre, dass sie Krebs hatte. Ich kann mich noch genau an diese Zeit, diese Stimmung, diesen alles Weitere bestimmenden Tag erinnern. Wir waren in unserem Sommerhaus in der Atzgersdorfer Straße. Meine Eltern wollte fortfahren und erklärten mir, dass ich für ca. 3-4 Stunden alleine bleiben musste, sie kämen sicher wieder, aber sie hatten einen wichtigen Termin. Ich wollte meine Mutter nicht gehen lassen, ich fragte sie, ob sie nicht lieber bei mir zu Hause bleiben könnte oder ob sie den Termin nicht einfach verschieben könnte - so, also ob man sein Schicksal verschieben könnte. Ich ahnte etwas, konnte es aber nicht benennen. Meine Eltern fuhren weg und ich blieb alleine und verzweifelt zurück. Ich kann mich noch heute an meine Angst damals erinnern. An meine Angst, dass etwas mir unbegreifliches geschehen könnte. Meine Eltern kamen nach der vereinbarten Zeit wieder nach Hause - glücklicherweise musste ich nicht länger warten, die Zeit schien schon so kaum zu vergehen. Meine Mutter eröffnete mir, dass sie die Diagnose Brustkrebs erhalten habe und nun eine Operation bevor stünde. Wenn alles gut ging, würde sie ein paar Tage im Spital sein und danach wäre alles wieder wie vorher. Und so war es auch fast - meiner Mutter wurde eine Brust amputiert, sie wurde nicht nachbehandelt, musste aber zur Kontrolle. Im Winter ereilte uns die Diagnose Lymphdrüsenkrebs. Und mit dem Lymphdrüsenkrebs zog die Chemotherapie bei uns ein. Meiner Mutter war die Therapie ins Gesicht geschrieben - ich erkannte sie kaum wieder. Jahrelang begleiteten uns unterschiedliche Zyklen der Chemo. Ambulant im Sommer - ich begleitete meine Mutter mit den Öffis ins Spital, dann gab es immer Speckstangerl. Und bei der Heimfahrt nach der Chemo hofften wir, dass der Bus nicht so viel schaukelte und sich meine Mutter nicht übergeben musste. Haarausfall, Übelkeit, Fieberschübe, Schmerzen in allen Knochen - die Jahre waren geprägt von Aufs und Abs. Immer wieder kehrte der Krebs zurück, immer wieder wurde die Chemo ausgepackt und verabreicht, immer wieder verlor meine Mutter ihre Haare, musste sie kotzen bis zum Umfallen. Ich musste Rücksicht nehmen, durfte meinen Eltern nicht auf den Nerv gehen und sollte mich möglichst gut und unauffällig benehmen. Ich tat mein bestes - ich wollte meine Mutter in keinem Fall verlieren. Alle müssen sterben - meine Mutter nicht! All meine (jugendlichen) Sorgen verpackte ich brav in mir, versuchte mich selbst gut durchzubringen und hoffte auf ein befreites Leben 'danach' - wann immer dieses 'danach' stattfinden würde. Rückblickend betrachtet kann ich, nun selber Mutter von drei Söhnen, sehr gut nachvollziehen, dass es ganz viel Kraft braucht, bei einer schweren Erkrankung auch voll und ganz Eltern sein zu können. Wenn man dem Tod ins Auge blickt, ändern sich die Perspektiven.
Meine Mutter starb am 13.11.1985 mit 55 Jahren. Todesursache. Lungenversagen durch Lungenkrebs.
© Michaela Schmitz 2020-06-13
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