Ein ‘normales’ Leben führen - geht das?
- 124

Nachdem 2009 auch die Knochenmarkpunktion kein Ergebnis in Bezug auf die Autoimmunerkrankung von Sebastian brachte, reduzierten wir unsere Sicht auf Sebastians Erkrankung auf die nötigen Kontrolltermine im St.Anna Kinderspital und die Besuche bei seinem Privatarzt, einem Allgemeinmediziner mit Schwerpunkt TCM. Wir ‘gewöhnten’ uns an die schlechten Blutbilder und die aufgeschreckten Ärzte und Krankenschwestern. Sowohl das rote als auch das weiße Blutbild wurden immer schlechter - Sebastians Allgemeinzustand blieb konstant gut. Man merkte also rein äußerlich nichts von seiner Erkrankung, außer, er hatte größere Hämathome. In der Schule gab es immer wieder mal Mobbing - raufen, schubsen und herumprügeln (so, wie es Jungs in der Pubertät halt machen) kam für Sebastian nicht in Frage. Da Sebastian mit seiner Erkrankung sehr offen umgeht, war sie auch Thema in der Klassengemeinschaft. Einmal war sein Arzt in der Schule und erklärte den MitschülerInnen die Erkrankung von Sebastian. Wenn jemand im Rollstuhl sitzt oder jemandem ein Arm fehlt - dann sieht man gleich, was los ist - im Fall von Sebastian war es nicht so einfach, sein soziales Umfeld für seine Erkrankung zu sensibilisieren. Sebastian machte nach der Absolvierung der NMS eine überbetriebliche Lehrausbildung im WIFI NÖ, vorerst wollte er Drucker werden, dann fand er einen integrativen Lehrplatz in St.Pölten und startete mit der Lehre zum Betriebslogistiker. Er machte den Führerschein, den Staplerschein und schaffte letztendlich seinen Lehrabschluss in der Normalzeit von drei Jahren. (Bei einer integrativen Lehre hat man ein Jahr länger bis zur Lehrabschlussprüfung Zeit). Soweit lief also alles normal, bis auf die Blutbefunde. Sebastian arbeitete ‘normal’ wie jede/r andere auch - aus meiner Sicht aber grundsätzlich zu viel. Er stand täglich um 05:00 auf, um rechtzeitig am Arbeitsplatz zu sein, kam gegen 17:30 nach Hause, machte auch Überstunden. Er traf sich mit Freunden und war unterwegs. Er hatte zwei (leichte) Autounfälle (ein ziemlicher Schock für uns beide) gut überstanden und versuchte sich im Bundee Jumping (da war ich echt sauer auf ihn). Oft hab ich mir gedacht, das ist alles zu viel für ihn. In einem sehr heißen Sommer hatte er zu viel in der Sonne gearbeitet und hatte sich einen Hitzschlag geholt - er lag fast zwei Wochen flach.
Sebastian wohnt seit 2013 in einer eigenen Wohnung, er erledigt den Haushalt selber und kommt ‘nur’ zum Essen. Wir haben regelmäßig Kontakt, Sebastian ist erwachsen und muss den Umgang mit seiner Krankheit selber checken - ich als Mutter darf loslassen (was leichter gesagt als getan ist).
Sebastian wollte nach der Lehre weiterhin in seinem Betrieb arbeiten - durch die integrative Lehre war die Übernahme nicht so einfach. Anfang März 2020, wenige Tage vor dem 1. Lockdown, unterschrieb Sebastian sein neues Arbeitsverhältnis.
'Zwischen unserer Vorstellung vom Leben und dem Leben an sich liegt der Hauch der Ewigkeit.’
© Michaela Schmitz 2022-01-09
Kommentare
Jede*r Autor*in freut sich über Feedback! Registriere dich kostenlos,
um einen Kommentar zu hinterlassen.