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#tod#leben#sterben

Gespräch mit meiner Mutter

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Gespräch mit meiner Mutter | story.one

Ich saß am Bett meiner Mutter. Ich fragte sie, wie es ihr heute ginge. Sie antwortete: 'So, wie immer - ich warte auf den Tod'. Und so wie immer plauderten wir über ihr Leben, das sie gelebt hatte. 'Erzähl' mir was aus deiner Kindheit bitte' sagte ich. 'Willst du das wirklich wissen?' fragte sie. 'Ja!' sagte ich. 'Ich erinnere mich an einen Vormittag, wo wir SchülerInnen der Volksschule bei der Fleischhauerei in Geras vorbeigehen mussten - im Gänsemarsch. In der Auslage hingen die Juden - aufgeknöpft. Und ich erinnere mich an einen anderen Vormittag, wo wir ebenfalls wieder bei der Fleischhauerei vorbeigehen mussten - in der Auslage hingen die Nazis - aufgeknöpft. Diesmal von den Russen. Für mich waren es immer nur Tote, die ich anschauen musste, ohne zu wissen, warum. Menschen, die umgebracht wurden - ich erkannte den Sinn nicht. Wir hatten einen Lehrer, der mich sooft auf den Kopf schlug, bis meine Haarspange endlich im Schädel steckte. Und ich wusste nicht, warum er dies tat.' Sie weinte kurz. Meine Mutter war in Geras als uneheliches Kind aufgewachsen. Mein Großvater hatte sich zwar zu seiner Vaterschaft bekannt. Aber mehr nicht. Und das alles in den Kriegswirren. 'Was willst Du mir noch erzählen?' fragte ich. Sie weinte wieder. 'Weißt Du, was Freiheit bedeutet? fragte sie mich. 'Hm, wahrscheinlich selbstbestimmt leben. Tun, was ich will. Rausgehen, wann ich will und reisen, wohin ich will. Meinen Beruf ausüben, so, wie ich mir das vorstelle. Mich mit Menschen treffen! Lieben, lachen, leben!' Sie schaute mich nachdenklich an: 'Stimmt alles. Aber - wirklich frei bist Du, wenn das alles nicht zählt. Meine Mutter hat mich und unsere Nachbarskinder immer dann, wenn die Russen kamen, in den Selchofen gesperrt. Wir mussten dort Stunden verbringen. Zusammengepfercht in einem dunklen Raum. Ich erträumte mir all die Freiheit aus Angst vor dem, was meiner Mutter genau in jenen Momenten angetan wurde. Sie schützte mich und uns und opferte sich selbst. Hatte sie eine Wahl? Hatte sie die Freiheit? Ja, das hatte sie - sie hatte gewählt'. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte keinen blassen Schimmer von den Qualen des Krieges. Und nicht von all den traumatischen Erlebnissen. Meine Mutter weinte. Und ich auch. Wir führten jeden Abend diese Gespräche. Und wir verabschiedeten uns, als gäbe es kein gemeinsames Morgen, mit viel Tränen. 'Warum willst Du sterben?' fragte ich. 'Weil ich genug gelitten habe.' sagte sie. 'Kannst Du mir noch eine Frage beantworten?' 'Ja, natürlich!' 'Was bedeutet das Coronavirus für Dich?' Sie überlegte. 'Sei wachsam. Das Leben ist ein Kreis und keine Linie. Ja zum Leben heißt ja zum Tod. Vergiss' das nie. Wer Angst sät, wird Panik ernten. Fühle Deine Angst, Deinen Schrecken, Deine Trauer und Wut. Aber lass' Angst und Schrecken nie Dein Leben bestimmen. Nach Regen kommt Sonne - und das weißt Du!'

Meine Mutter starb am 13.11.1985 mit 55 Jahren. Todesursache: Lungenversagen durch Lungenkrebs

© Michaela Schmitz 2020-05-03

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