Nächtliches Gespräch mit einem alten Mann

'Ich habe mein Leben gelebt' sagte der alte Mann. 'Und Du?' fragte er mich. 'Weiß nicht so genau - denke, ja!' sagte ich nach einer kurzen Pause. 'Aha - weiß nicht so genau - das ist aus meiner Sicht keine gute Antwort' meinte der alte Mann. 'Ok', sagte ich 'vieles habe ich auch schon erlebt, einige Wünsche sind noch offen, aber meine Zukunft sehe ich vor mir - frei, selbstbestimmt, eigenverantwortlich.' 'Oh, das klingt gut - aber warum nimmst Du dann Rücksicht auf mich? Wenn Du mich schützt, dann nimmst Du Dir Deine Zukunft.' sagte der alte Mann. 'Hm, muss ich das nicht tun? Du hast mich großgezogen, mich umsorgt und mich zu dem gemacht, was ich heute bin - ist es nicht meine Pflicht, Dich zu schützen?' erwiderte ich in der Hoffnung, bestätigt zu werden. Der alte Mann ließ sich mit seiner Antwort Zeit. 'Ich habe mein Leben gelebt und lasse mich nicht einschränken. Ich hatte und habe alles. Ich werde in Würde sterben und brauche keine Rettung von Dir. Ich will jede Sekunde leben - jetzt - denn die nächste könnte schon die letzte sein. Also, warum rettest Du mich und sperrst Deine Kinder weg?' Ich hatte darauf keine Antwort. Den Kindern die Zukunft nehmen? Konnte und wollte ich das? War ich verantwortlich für die Zukunftsbilder meiner Kinder? Musste ich ihnen Zukunft geben? Warum war das dem alten Mann so wichtig? 'Du schützt mich, der sein Leben gelebt hat und sperrst jene weg, die ihre Zukunft aktiv gestalten wollen. Da stimmt was nicht. Ich will meine Enkelkinder sehen, meine Freunde, meine Verwandten - denn es könnte, Virus hin oder her, in jedem Fall das letzte Mal sein. Akzeptiere meine Endlichkeit und lebe Deine Zukunft. Lass mir meine Eigenverantwortung. Ich kann mich schützen! Aber Du schützt mich nicht, indem Du Deine Kinder wegsperrst! Verschleiere nicht die Tatsachen. Du hast vor Deiner eigenen Endlichkeit viel mehr Angst als ich.' sagte der alte Mann, nahm seinen Hut und ging nach draußen.