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#mut#tod#krebs

Totenschein

  • 202
Totenschein | story.one

Wieder einmal eine dieser schlaflosen Nächte. Meine Mutter und ich hatten am Abend zuvor ein langes Gespräch geführt. Sie saß aufrecht in ihrem Bett, die Sauerstoffflasche neben ihr und ich hatte mich ans Fußende gesetzt. Wir sprachen über die lange Zeit ihrer immer wieder aufflackernden Krankheit, den Krebs. Und wir sprachen darüber, wie er unser aller Leben verändert und begleitet hatte, welchen Einfluss diese Erkrankung auf uns alle hatte. Meine Kindheit wurde abrupt beendet, die Unbeschwertheit war dahin. Viele Ziele, die sich meine Eltern gesetzt hatten, wurden in Frage gestellt. Meine jugendlichen Sorgen wurden, verständlicherweise, hinten angestellt. So gab es wenig Raum für Kommunikation. Dafür viel Raum des Schweigens und Verdrängens. So versuchten meine Mutter und ich an jenem Abend, ein paar verschüttete Situation aufzudecken, uns gegenseitig zu erzählen und uns gegenseitig zu verzeihen. Wir weinten viel, aber dafür gemeinsam. Und zwischen dem Weinen gab es auch Lachen, Hoffnung, Erkenntnis. Dieser Abend war einer von vielen in diesen letzten Monaten ihres kurzen Lebens, den wir intensiv erlebten und bewusst gestalteten. Im Rückblick erscheint es mir fast wie aus der Zeit heraus gehoben - meist hatte sie nur Kraft, 1 bis 2 Stunden mit 'Aufarbeitung von Altem' zu verbringen - aber es schien uns, als wäre es viel mehr gewesen? Am Morgen nach einer dieser intensiven Abende erklärte mir meine Mutter zum Frühstück: 'Kannst Du bitte den Gemeindearzt informieren, dass er mir einen Hausbesuch abstatten muss. Er ist der, der den Totenschein ausstellt. Ich möchte nach wie vor zu Hause sterben und er soll nicht im Ungewissen bleiben. Es erspart auch euch eventuell ein unangenehmes Nachfragen, wenn ich schon tot bin.' Immer wieder war ich sprachlos, an was sie alles dachte. Und sie hatte recht - besser vorher alles besprechen und bereinigen, als danach Komplikationen zu haben. So rief ich den zuständigen Arzt an und machte einen Termin aus. Er kam an einem Abend vorbei, mein Vater und ich waren anwesend. Meine Mutter wollte mit dem Arzt alleine sprechen - ohne uns. Was meine Mutter mit unserem Gemeindearzt besprochen hat, weiß ich nicht. Sie hat es uns nie erzählt. Er kam nach ca. 20 Minuten heraus, setzte sich zu uns ins Wohnzimmer und sagte: 'Ihre Frau, Ihre Mutter, hat mir alles erzählt und mir ihre Befunde gezeigt. Ich respektiere ihren Wunsch, zu Hause zu sterben. Danke, dass Sie mich vorher eingebunden haben. Wir sehen uns - mit Sicherheit - wieder.' Er verabschiedete sich und wir blieben schweigend zurück. Bis mein Vater sagte: 'Ich habe gehofft, er warnt sie vor dem Erstickungstod und sie sieht ein, dass sie ins Spital muss.' Er sah mich fragend an - ich konnte nicht antworten, sondern ging in mein Zimmer.

Meine Mutter starb am 13.11.1985 mit 55 Jahren. Todesursache: Lungenversagen durch Lungenkrebs

© Michaela Schmitz 2020-05-17

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